Selbst in den Pausen verliert Marvin Pachan sein Ziel nicht aus den Augen. Vom Schulhof blickt der 18-Jährige hinauf zu einem eckigen Glasbau, dessen Umrisse sich wie eine riesige Butterdose auf einer Anhöhe erheben. Es sind die Umrisse der megamodernen Multifunktionsarena, in die bei Heimspielen des Fußball-Bundesligisten FC Schalke 04 mehr als 60000 Zuschauer strömen. Marvin will Profifußballer werden, er will dort oben spielen, „auf Schalke“.
Das geduckte Gebäude der Gesamtschule „Berger Feld“ liegt fünf Gehminuten vom Stadion entfernt. Diese graufassadige Schulfabrik besuchen zurzeit gut 1500 Schülerinnen und Schüler. Marvin ist in der zwölften Klasse und will nächstes Jahr sein Abitur machen. Danach winkt ihm ein Profivertrag beim FC Schalke 04. Marvin ist gebürtiger Gelsenkirchener, „auf Kohle geboren“, wie die Menschen in der ärmsten Stadt Nordrhein-Westfalens stolz von sich behaupten. Schon als „Mini-Kicker“ trug Marvin das blau-weiße Trikot. Der lauf- und zweikampfstarke Abwehrspieler gilt als großes Fußballtalent. In zwei, drei Jahren will Marvin die Rafinhas und Krstajics in der Schalker Viererkette ablösen. Der Deutsche Fußball-Bund (DFB) hat bereits ein Auge auf den couragierten Nachwuchskicker geworfen. Der Schüler ist Stammspieler in der Jugend-Nationalmannschaft.
Bis zum achten Schuljahr ging Marvin auf das angesehene Gelsenkirchener Leibniz-Gymnasium. Dann legte ihm Schalke 04 einen Schulwechsel ins „Berger Feld“ nahe. Marvin war rasch überzeugt.
„Hier konnte ich Schule und Fußball optimal miteinander verbinden.“ Seit sieben Jahren werden an dieser Gelsenkirchener Gesamtschule ab der neunten Schulklasse angehende Fußballprofis ausgebildet – bis zur mittleren Reife oder dem Abitur. „Profivertrag & Abi-tur“, so werben die Gesamtschule Berger Feld und der FC Schalke 04 auf blau-weißen Plakaten für ihr bundesweit einzigartiges „Teil-internat“, das der DFB im Mai 2007 zur „Fußball-Eliteschule“ ernannt hat, als erste Schule in Nordrhein-Westfalen. Von den 1500 Schülerinnen und Schülern sind es derzeit 30 Jungen, die viermal pro Woche vormittags zwei Stunden Fußball auf dem Stundenplan stehen haben. Während die anderen Biologie oder Englisch büffeln, lassen Marvin und die anderen Fußballtalente auf den Trainingsplätzen des FC Schalke 04 den Ball laufen. „Das sind tausend Ballkontakte pro Woche zusätzlich“, sagt der Schalker Juniorencoach Norbert Elgert, ein ehemaliger Bundesligaspieler. „Damit ersetzen wir den Straßenfußball früherer Tage.“
Den wegen des Fußballtrainings ausgefallenen Unterricht müssen die Nachwuchskicker am Nachmittag oder samstags nachholen. Falls sie in einem der Schulfächer schwächeln, erhalten sie gezielten Förderunterricht. Bei ihren Hausaufgaben ist stets ein Lehrer in der Nähe. Um die fußballerischen Rohdiamanten in den zehn Schalker Jugendmannschaften kümmern sich insgesamt dreißig Trainer, sieben Betreuer und vier Scouts, die bundesweit Talente sichten. Hinzu kommt ein Fahrdienst, der die Nachwuchsspieler, die nicht im Internat wohnen, sondern im Gelsenkirchener Umland, morgens um sieben Uhr abholt und gegen 21 Uhr nach Hause bringt.
Im Schulgebäude Berger Feld ist für die Nachwuchsfußballer ein eigener Aufenthaltsraum mit Computer, Kühlschrank und Kleiderspind eingerichtet. Die Zettel an der blau-weißen Pinnwand sind Programm in der Kicker-Kaderschmiede: „Wenn ich besser werden will, muss ich dahin gehen, wo die Guten sind.“ Oder: „Behandle den Ball gut, sonst behandelt er dich schlecht.“ Und: „Ich gehe nie zu Bayern München!“
Wenn Auswahlspieler wie Marvin mit der Nationalmannschaft unterwegs sind, bekommen sie die anstehenden Klausuren von den Lehrern im versiegelten Umschlag mit. Die Arbeiten müssen im Trainingslager unter „Echtbedingungen“ und unter Aufsicht geschrieben werden. Sogar während eines Lehrgangs in Nigeria mussten die Schalker Jugend-Nationalspieler ihre Klausuren schreiben. Damit die Fußballer möglichst wenig Lehrstoff verpassen, mailen ihnen manche Lehrer auf Auslandsreisen Unterrichtsmaterial und Testaufgaben zu.
Marvin, der im Schalker A-Junioren-Bundesligateam schon zu den Leistungsträgern zählt, scheint die Doppelbelastung Schule und Fußball mühelos zu bewältigen. „Ich weiß, wo ich hinwill“, sagt der Zwölftklässler selbstbewusst. Wir treffen ihn nach einer Englischstunde und vor einer Psychologieklausur. Er trägt Jeans und T-Shirt, ein unauffälliges Outfit. „Ich habe immer auf die Karte Fußball gesetzt“, gesteht Marvin, „es ist das schönste Spiel der Welt, bei dem man Geld verdienen kann.“ Womöglich irgendwann auch im Ausland. Neben Englisch lernt Marvin Italienisch als zweite Fremdsprache. Er ist auf den Beruf des Fußballprofis fixiert: „Ich habe keinen Plan B“, sagt er.
Im Klassenraum 507 stehen zwei Plüschsofas, dahinter dunkelbraune Tische und harte Holzstühle, das angejahrte Schulmobiliar. Hier erteilt Englisch- und Religionslehrer Thomas Ronge den Nachwuchskickern „Kompensationsunterricht“. Die Fußballer haben ihre Stammplätze auf den Sofas. Der korpulente Lehrer ist ein Unikum an der Gelsenkirchener Gesamtschule. Offen bekennt sich Ronge als Fan von Borussia Dortmund, dem bei Schalke 04 herzlich verhassten Rivalen. Doch bei allen fußballerischen Frotzeleien geht der Pädagoge mit den Schülern fürsorglich um: „Ich habe Respekt vor diesen Jungs“, sagt Ronge, „die haben einen härteren Tagesablauf als wir Lehrer.“ Noten werden an die angehenden Profifußballer nicht verschenkt, versichert Ronge. „Die müssen sich alles hart erarbeiten.“ Der Englischlehrer gilt als harter Hund. Er akzeptiert nur Hausaufgaben, die mit Füller geschrieben sind.
Einer von Ronges Schülern hat es als Nummer eins bereits auf die große Schalker Fußballbühne geschafft: Manuel Neuer. Der 22-Jährige gilt derzeit neben René Adler von Bayer Leverkusen als größtes deutsches Torhütertalent. Der schlaksige Keeper gehörte 2001 am Berger Feld zu den ersten Fußball-Eliteschülern. Wie ein Torwächter sah Neuer damals nicht aus. „Das war ein kleiner Moppel“, erinnert sich sein Kunstlehrer Arthur Preuß, der an der Gesamtschule zugleich als „Fußball-Koordinator“ tätig ist. Preuß hat Neuer manche private Lektion erteilt. Der heutige Schalke-Stammkeeper kämpfte an der Gesamtschule zumeist um seine Vier in Englisch – „und gegen den Klassenerhalt“, wie einer seiner früheren Lehrer witzelt.
„Ich habe in der Schule immer das Nötigste gemacht“, sagt Neuer, als wir ihn nach dem Training frisch geduscht im Restaurant „S04“ treffen. Der Torhüter, der ein blassblaues Designer-T-Shirt, Jeans und Turnschuhe trägt, fixiert sein schmales Handy. Ihn drängen Fototermine und Autogrammjäger. „Es ist hart“, sagt Neuer rückblickend über seine Schulzeit, „aber man muss wissen, was man will.“ Auch Neuer hatte sich frühzeitig für den Beruf des Fußballprofis entschieden. „Aber du weißt ja nie, wo du am Ende landest.“ Vieles, das zeigt Neuers Werdegang, ist purer Zufall im Fußballer-Leben: Als er mit sechs Jahren für Schalke 04 „in der Pampers-Liga“ spielte, stand er nur widerwillig im Tor. „Ich wollte Feldspieler werden, aber die hatten keinen fürs Tor. Da musste ich in die Kiste“, erinnert sich Neuer. Bald galt er wegen seiner einzigartigen Sprungkraft und Reflexe als großes Torhütertalent. Doch er musste auch Rückschläge einstecken: In der C-Jugend wurde er aus der Auswahlmannschaft des Westdeutschen Fußballverbandes geworfen.
„Ich war zu klein“, sagt der heute auf 1,92 Meter herangewachsene Profifußballer. Die Schulmannschaft vom Berger Feld vertraute dennoch weiterhin auf Neuer. Bei dem Bundeswettbewerb der Schulen „Jugend trainiert für Olympia“ zog die Gelsenkirchener Gesamtschule 2002 ins Finale ein. Im Berliner Olympiastadion unterlag das Team vom Berger Feld der Lausitzer Sportschule Cottbus – trotz optischer Überlegenheit – mit 0:2. „Wir haben vorn keinen reingemacht“, ärgert sich Neuer noch heute. Sein Schulpraktikum hatte er beim Physiotherapeuten gemacht. „Wenn es mit dem Fußball nichts geworden wäre, dann hätte ich mir auch so etwas beruf-lich vorstellen können.“ Doch inzwischen ist Manuel Neuer Fußballmillionär und gilt bei dem Fußball-Weisen Franz Beckenbauer als potenzieller Nachfolger von Nationaltor-hüter Jens Lehmann.
Längst nicht für alle Nachwuchskicker an der Gelsenkirchener Schule erfüllt sich dieser Traum. In einer Studie hat der Paderborner Wissenschaftler Stefan Gudermann die Karrieren von 51 Talenten untersucht, die am Berger Feld ihren Schulabschluss gemacht haben. Nur 22 dieser Spieler verdienen ihr Geld heute im Profifußball. Ihr „Marktwert“ liegt laut Gudermann zwischen 4,5 Millionen und 75000 Euro. 17 der 51 untersuchten Fußballschüler landeten in der viertklassigen Oberliga. Die restlichen zwölf Talente kicken bei kleineren Amateurvereinen oder haben das Fußballspielen ganz aufgegeben. Ein schmaler Grat zwischen Abseits und Abitur.
Vom millionenschweren Fußballglück träumte auch Christopher Bogdan, der gerade sein Fachabitur am Berger Feld gebaut hat. Statt Fußballprofi will Christopher jetzt den Beruf des Groß- und Außenhandelskaufmanns erlernen. Eine Lehrstelle hat er bereits gefunden. Der technisch versierte Mittelfeldspieler landete nach einer schweren Verletzung (Kreuzbandriss und angebrochene Kniescheibe) im Abseits. Schalke schob ihn mit 17 Jahren ab. Christopher versuchte es bei den A-Junioren-Bundesligateams in Bielefeld, Oberhausen und Wattenscheid – ohne Erfolg. „Ich bin nie wirklich wiedergekommen“, sagt der heute 20-Jährige. Inzwischen kickt er für Vorwärts Kornharpen in der fünftklassigen Verbandsliga. An der Gelsenkirchener Gesamtschule ist Christopher bis zu seinem Fachabitur geblieben. Seine Zeit dort bereut er keineswegs: „Ich habe trotzdem viel mitgenommen. Ich würde es noch einmal so machen. Jeder junge Spieler träumt doch von einem Profivertrag.“
Dem Sportdezernenten der Bezirksregierung Arnsberg, Thomas Michel, imponiert, wie tapfer Christopher Bogdan sein frühzeitiges Karriereaus gemeistert hat – mithilfe der Gesamtschule. „Wir sind nicht bloßer Zulieferer für Bundesligavereine“, betont Michel, „wir müssen hier duale Karrieren fördern.“ Der Sportdezernent denkt an die Einführung des Fachs „Persönlichkeitsbildung“. Potenzielle Profifußballer sollen Auftreten, Körpersprache und den Umgang mit den Medien erlernen. „Auch außerhalb des Spielfeldes“, sagt Michel, „müssen die Fußballschüler Regelverhalten einüben.“
Auf Disziplinlosigkeiten und Leistungsversagen in der Schule reagieren die Jugendtrainer des FC Schalke 04 konsequent. „Die Spieler werden so lange vom Spielbetrieb ausgeschlossen, bis ihre schulische Leistung wieder stimmt“, sagt Jugendscout Oliver Ruhnert. Mit Annehmlichkeiten und Privilegien ist es dann vorerst vorbei. Ruhnert: „Plötzlich kommt der Fahrdienst nicht mehr.“ Im Lehrerkollegium am Berger Feld ist das Fußballprojekt keineswegs unumstritten. Eliteförderung und Gesamtschule – das geht für manche Pädagogen nicht zusammen. Klaus Witte, Deutsch- und Politiklehrer an der Schule, ist einer der Kritiker dieses Modells. Gesamtschulen müssten viel eher Zusatzangebote für motorisch gestörte Schüler machen, statt auf eine elitäre Förderung von Fußballtalenten zu setzen, verlangt er. Dagegen sieht Schulleiter Georg Altenkamp in seiner Gesamtschule ein Spiegelbild der Gesellschaft: „Wir sind für die Kinder von Arbeitslosen genauso da wie für künftige Fußballmillionäre.“
Die Fußballkooperation mit dem benachbarten FC Schalke 04 begreift Altenkamp als Chance, das Image und Leistungsniveau der ältesten und größten Gesamtschule Nord-rhein-Westfalens aufzupolieren. Derzeit sind in der Gesamtschule Berger Feld annähernd 60 Prozent der 1500 Schüler Kinder von Migranten. Die Anmeldungszahlen waren rückläufig. Mit dem Fußballprojekt will Altenkamp leistungsstarke deutsche Schüler anlocken. Ab dem fünften Schuljahr gibt es nun „Sportförderklassen.“ In zwei der insgesamt acht Eingangsklassen an der Schule werden derzeit vier zusätzliche Sportförderstunden für Fußballtalente erteilt. Dabei können die Schüler das weitläufige Trainingsgelände mit den sechs Rasensportplätzen beim FC Schalke 04 nutzen. Der Run auf diese Sportförderklassen ist groß, die Aufnahmebedingungen sind streng: Bei ihrer Grundschul-entlassung müssen die Bewerber in Sport mindestens eine Zwei und in den übrigen Leistungsfächern keine schlechtere Note als eine Drei vorweisen.
Georg Altenkamp ist ein fußballverrückter Schulleiter. „Ich habe Spaß in den Backen, wenn ich den Manuel Neuer auf Schalke spielen sehe“, gesteht der 60-Jährige, „das ist doch unser Schüler!“ Gleichzeitig verabscheut Altenkamp Starkult an seiner Schule. Auf dem Gelände ist das Tragen von Sportkleidung mit Schalke-Emblem für die Nachwuchskicker tabu. Auch ein „selbstbewusster Leistungsfußballer“ müsse lernen, „sich in ein System einzuordnen“ und „soziales Verhalten“ zu zeigen. In manchen Fällen ist dies schiefgegangen. Arrogante Jungstars, die sich auf dem Schulhof mit ihren Groupies in-szenierten, sind von der Schule geflogen. Der Fußball-Club Schalke 04 hat die Entscheidungen der Schulleitung in allen Fällen unterstützt. „Die Jungs, die in der Schule Probleme hatten, die haben auch die größten fußballerischen Defizite gehabt“, urteilt Schalkes ehemaliger Nachwuchsmanager Helmut Schulte. Im Alter von 15 bis 17 ließen sich die Talente noch charakterlich formen. „In dieser Zeit musst du versuchen, sie auf das Fußballgeschäft vorzubereiten.“ Sobald ein Spieler aber zum ersten Mal im Bundesligateam auflaufe, „kommst du kaum noch an ihn heran. Das sind dann alles kleine Popstars.“
Marvin Pachan, der ehrgeizige U19-Kicker aus Klasse zwölf, eifert keinen Vorbildern nach. Im Gegensatz zu vielen seiner Mannschaftskameraden hat der 18-Jährige bis heute auch keinen Spielerberater. „Mich beraten meine Eltern“, sagt er. Im Fußballmilieu gilt so etwas als megaout, der Spielerberater ist für die meisten geradezu ein Statussymbol. „Ich schaue nach rechts, und ich schaue nach links“, sagt Marvin, „aber ich bin immer mei-nen eigenen Weg gegangen.“ Am Ende will er in der Schalke-Arena ankommen – als Profifußballer.
Die elf Gebote der Fußball-Eliteschule auf Schalke
1. Der Verein ist das Wichtigste. Geht es dem Verein gut, geht es allen gut.
2. Fußball ist ein Mannschaftssport. Respektiere deine Mitspieler mit allen ihren Stärken und Schwächen.
3. Der Trainer hat immer recht. Wer glaubt, einmal etwas besser zu wissen, der bittet um ein Vier-Augen-Gespräch.
4. Jedes Training erfordert absolute Konzentration. Was man im Training nicht beherrscht, kann auch im Spiel nicht gelingen.
5. Denke immer positiv. Jedes Spiel kann nur gewonnen werden, wenn alle davon überzeugt sind.
6. Behandle den Ball gut. Sonst behandelt er dich schlecht.
7. Nie das Ziel aus den Augen verlieren. Der Ball muss ins Tor rein.
8. Hinten muss die Null stehen. Führe jeden Zweikampf so, als wäre er der letzte.
9. Fußball macht Spaß. Denn große Leistungen werden nur mit freudigem Herz erbracht.
10. Der Lüdenscheider Vorortverein ist ein Gegner, der respektiert und geschlagen werden muss.
11. Schalke ist Religion. Der Ball ist unser Freund. Und Olaf Thon ist unser Prophet.