Herr Büscher, haben Sie Angst vor dem Fliegen, oder warum gehen Sie so weite Strecken zu Fuß?

Im Gegenteil: Wer Ängste hat, für den ist das Gehen eher nichts. Denn wer einfach losmarschiert, ist zunächst mal schutzlos. Man wird ja physisch mit der Welt konfrontiert. Alles dringt auf dich ein: Wetter, Geräusche, Eindrücke – das ist ein sehr intensives Erleben. Für mich gilt: Nur wer ein gewisses Risiko ein-geht, bekommt auch etwas zurück.

Sind Ihre Spaziergänge ein Protest für Entschleunigung und gegen den Wahn, ständig um die Welt zu jetten?

Nein, ich mache das nicht aus ideologischen Erwägungen und habe mir auch keine poststrukturalistische _eorie gebastelt. Der erste lange Spaziergang, über den Sie geschrieben haben, führte einmal rund um Berlin, vorbei an gelben Ikea-Würfeln und Imbissbuden, an denen Krankenhauspatienten mit Bade-mantel und Kippe standen. Das war kurz nach der Wende. Ich bin damals mit dem Zug in der Umgebung von Berlin herumgefahren und sah erlöschende Landschaften. Die zerfallenden Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften, die Orte der Transformation. Das wollte ich mir einfach mal genauer ansehen.

Macht das Laufen gleich Spaß, wenn man losgeht?

Es dauert eine Weile. Am Anfang habe ich mich gefragt, was ich hier eigentlich mache, warum ich hier entlang einer tristen Straße marschiere, auf der die Autos vorbeipreschen.

Und wann wird es interessant?

Wenn es plötzlich fremd wird. Wenn man von Berlin aus nach Ostpolen geht, dann sieht es dort nicht so anders aus als in Brandenburg. Aber irgendwann ändern sich die Dinge. Fuhrwerke tauchen auf, orthodoxe Kirchen. Und plötzlich war da dieses blau-grüne Licht des Ostens.

2.500 Kilometer in 82 Tagen: Woran denkt man denn die ganze Zeit, wenn man so lange unterwegs ist?

Man denkt gar nicht so sehr über andere Dinge oder über sich selbst nach. Dafür ist man viel zu sehr mit dem Gehen beschäftigt. Das sieht vielleicht von außen betrachtet nicht so aus, aber das Gehen füllt einen voll und ganz aus. Die Strecke von Berlin nach Moskau hat eine kriegerische Geschichte. Ja, es ist der Weg, den schon Napoleon genommen hat, und im Dritten Reich war es die Route der Heeresgruppe Mitte. Bei den Seelower Höhen gab es die Allee der Gehenkten, wo die SS 1945 Deserteure aufgehängt hat.

Haben Sie Menschen getroffen, denen diese Geschichte bewusst ist?

Ja, einige. Es gab einen seltsamen Moment in Russland, als ich aus dem Wald kam und dort ein junger Mann stand, der sein Auto reparierte. Als ich ihn nach dem Weg nach Moskau fragte, wollte er wissen, ob ich Deutscher sei, und als ich bejahte, sagte er nur: „Den Weg nehmt ihr immer, was?“

Sie sind mit großer Zähigkeit auch durch traumatische Landschaften gewandert. Doch einmal schreiben Sie in Ihrem Buch über einen Moment in Russland: „Hausschrott. Staatsschrott. Essundtrinkschrott. Autoschrott. Atomschrott. Stadtlandflussschrott. Benimmschrott. Kirchenschrott. Seelenschrott. Was habt ihr aus eurem Land gemacht?“ Gab es Momente, wo Sie hinschmeißen wollten?

Die kleineren und mittleren Härten haben mich nicht umgehauen. Die forderten eher meinen Widerstand heraus. Aber eine Situation hat mich fertiggemacht: Ich war im äußersten Osten von Weißrussland. Es war schon Herbst, von oben kam der Regen, unten war alles Matsch. Und durch diesen Matsch sah ich junge Frauen auf hohen Schuhen gehen. Und es war mir klar, dass der Matsch letztlich stärker sein wird und früher oder später das Schöne und Junge runterziehen wird. Das war eine ganz starke Meta-per. In dem Ort fuhr plötzlich ein großer Zug ganz langsam durch den Bahnhof, auf dem „Berlin–Moskau“ stand. Ich weiß nicht, ob ich stark genug gewesen wäre, weiterzugehen, wenn der angehalten hätte. Ich stelle mir Ihre Ankunft in Moskau wie bei einem Marathonläufer vor: ein Moment voller Glückshormone. Ich kann seitdem tatsächlich Leistungssportler verstehen. Es war eine solche Euphorie. Die letzten Kilometer bin ich durch graue, verschneite Vorstädte gegangen, aber schon wie auf Wolken. Ich wurde immer schneller, habe nicht rechts und links geschaut, und als ich das Ortsschild von Moskau sah, habe ich mich draufgestürzt und es umarmt. Es war ein Glücksrausch – mit dem einzigen Makel, dass ich allein war, obwohl ich ein Riesenbedürfnis hatte, mich mitzuteilen.

Sie sind nicht nur von Berlin nach Moskau gegangen, sondern auch einmal durch die USA, und zwar von Norden nach Süden. Sollte das in einem Land, in dem kaum einer zu Fuß geht, so eine Art Demonstration werden?

Ich habe auch das nicht ideologisch überfrachtet, aber es war schon ein Thema. Von Kollegen und Freunden wurde ich gewarnt, dass das gar nicht geht – das Laufen in den USA. Und ich wusste ja auch selbst, dass man da auf all den Landstraßen und Bürger-steigen niemanden trifft, der zu Fuß geht. Ich habe mir aber gesagt: Das ist meine Methode, und ich mach das mal. Und am Ende war es nicht schlecht, denn so habe ich unheimlich viele Amerikaner kennengelernt, die ich sonst niemals getroffen hätte.

Sind die nicht alle in Autos an Ihnen vorbeigerauscht?

Nein. Es haben viele angehalten und gefragt, ob sie mich mitnehmen können. „Need a ride?“ – diese Frage habe ich etliche Male gehört. Das waren diese klassischen Typen mit Basecaps und Latzhosen.

Die Anhänger der Tea-Party-Bewegung, die Obama zum Teufel wünschen?

Wir sind in unserer USA-Wahrnehmung sehr von West- und Ostküste geprägt, das andere sind die bösen Fly-over-Countrys. Die Verrücktheit der Tea Party ist mir ehrlich gesagt nur im Fernsehen begegnet, auf dem Motelzimmer. In der Realität nie. Es war schon so, dass niemand für Obama war, aber das waren alles keine Fanatiker, sondern Menschen, die vernünftige Argumente hatten, ob man deren Meinung nun teilt oder nicht.

Sie sind im Norden an der Grenze zu Kanada bei minus zehn Grad gestartet und in Texas bei plus 40 Grad angekommen. Ich denke mal, dass Ihr Gepäck allmählich leichter geworden ist.

Ich nehme nie viel mit, und manches lasse ich unterwegs zurück. In den USA hatte ich einen Parka aus dem Militärladen an. Als er zu warm wurde, habe ich das dicke Futter einem Jungen in Nebraska geschenkt.

Alle Welt trägt doch Funktionskleidung – und ausgerechnet Sie als Fernwanderer nicht?

„Dort, wo man hinfliegt, gibt es Zonen, wo man – ohne groß fremd zu sein – in der Sonne liegen kann und die Menschen von zu Hause trifft“ Stimmt. Es ist schick, herumzulaufen wie ein Wanderer. Aber das habe ich nie gemacht. Ich will nicht herumlaufen wie ein Out-doorfuzzi. Da ist auch ein Schuss Eitelkeit.

Reden wir mal über die Härten des Gehens: Was machen Ihre Gelenke?

Es ging immer ganz gut, keine großen Probleme. Ich habe eher Gelenkprobleme, wenn ich nicht laufe, beim Autofahren habe ich manchmal Knieschmerzen.

Einsamkeit?

Ist etwas Schönes. Wenn es auf Zeit ist, kann ich sie gut ertragen.

Heimweh?

Schon, ab und zu. Als ich nach Moskau gelaufen bin, hatte ich noch keine Kinder. Mittlerweile ist es anders. Sie haben mal gesagt, dass Sie von jeder Reise europäischer zurückkommen.

Wie meinen Sie das?

Wenn ich zum Beispiel an meine Asien-Reisen denke, fühle ich mich dort grundsätzlich wohl, aber am Ende gehöre ich hierhin.

Nach Europa oder nach Deutschland?

Nach Deutschland – schon wegen der Sprache. Ich arbeite damit, sie ist für mich extrem wichtig. Ich könnte daher nie lange woanders sein.

Weiß man vieles in der Heimat eher zu schätzen, wenn man fort war?

Ja, das ist so. Es geht mir aber nicht um alltägliche Annehmlichkeiten oder Sicherheiten. Es geht zum Beispiel um unser Recht, um die Abwesenheit von Willkür. Das ist mir wahnsinnig viel wert.

Hat die Ferne auch ein wenig von ihrem Zauber verloren, weil mittlerweile Hinz und Kunz in die Karibik oder nach Südostasien reisen?

Und dort, wo man hinfliegt, gibt es dann Zonen, wo man – ohne groß fremd zu sein – in der Sonne liegen kann und die Menschen von zu Hause trifft. Während einem das Fremde schon nach wenigen Metern vor der Haustür begegnen kann.