Vor der Wende waren in meiner Heimat nördlich von Berlin alle scharf auf Parkas aus dem Westen. Die Kutten, die in der DDR angeboten wurden, wollte keiner anziehen. Als Renner galten Parkas der US-Army, auch Woody-Allen-Jacken genannt. Ich wollte auch so eine grüne Jacke haben, doch die Preise auf dem Schwarzmarkt waren obszön hoch. Frustriert darüber, dass ich parkalos dahinleben musste, kramte ich eines Tages auf unserem Dachboden herum. Da entdeckte ich fein säuberlich auf einem Bügel hängend ein merkwürdiges Kleidungsstück mit ungewöhnlichem Camouflage-Muster und war sofort begeistert. Es war kein wirklicher Parka, eher ein Überzieher, an Taillenbund und Ärmeln mit Gummizügen ausgestattet. Eine Staubschicht lag auf dem Fleckentarn, und das Teil roch muffig. Ich säuberte mein Fundstück mit Seifenlauge, zog es über und drehte mich damit im Korridor vor dem Spiegel. Es passte mir tadellos. Ich sah lässig darin aus, aber auch irgendwie aggressiv. "Was willst du denn mit dem Ding?", fragte meine Mutter mürrisch. "Fetzt doch", sagte ich. "Wo ist denn das her?" "Keine Ahnung, hat wohl mal einer hängen gelassen", antwortete meine Mutter einsilbig und wollte mir die Jacke wegnehmen.
Als ich versprach, die Jacke nur ab und an zu tragen, gab sie nach. Ich war stolz, endlich hatte ich auch eine Art Parka, der auch noch wie ein Farbtupfer zwischen den ganzen Amikutten wirkte. Das Versprechen an meine Mutter hielt ich nicht ein. Ich trug mein Fundstück bei Wind und Wetter. Wenn ich damit irgendwo reinkam, zog ich alle Blicke auf mich. "Sieht krass aus, das Teil", bemerkten die meisten. Und das war ja auch gut so, besser krass aussehen als langweilig. Als ich eines Abends in unserer Kleinstadtdisco stand und wieder mal wegen des Parkas bewundert wurde, sagte plötzlich ein Gast zu mir: "Das Ding ist von der SS." Ich zuckte zusammen und schaute ihn ungläubig an. "Ich kann dir Fotos zeigen, solche Dinger hat nur die Waffen-SS getragen", bekräftigte er. Ich war völlig eingeschüchtert, zog den Parka aus und stopfte ihn in eine Plastiktüte. Aufgewühlt fuhr ich im T-Shirt nach Hause und wollte Gewissheit.
Wir hatten eine große Bibliothek, darunter auch einige Bücher über den Zweiten Weltkrieg. Ich blätterte in einem sowjetischen Bildband mit dem Titel "Befreiung" herum und sah Waffen-SS-Männer vor brennenden Häusern irgendwo in Russland. Tatsächlich: Sie trugen die gleichen Jacken. Auch ihre Helme waren mit dem merkwürdigen Eichelmuster überzogen. Sie sahen finster und bösartig aus.
Ich überprüfte das Teil auf Blutflecken und irgendwelche Zeichen seiner Herkuft, konnte aber nichts finden. Sollte etwa jemand aus unserer Familie zur SS gehört haben? Warum hatte meine Mutter so heftig reagiert? Ich bekam Angst und konnte die ganze Nacht nicht schlafen. Hatte ich nicht zu Hause mal irgendwo SS-Runen-Blitze gesehen, auf Fotos, auf irgendwelchen Gegen-ständen? Ich grübelte, kam aber zu keinem Ergebnis. Ich stand nachts auf, suchte Fotoalben durch, staubte alte Bücher ab, durchwühlte Schränke in der Garage. Nichts. "Bei uns war niemand in der SS, dein Großvater hat auf einem Flugplatz gearbeitet und ist in Belgien gefallen", reagierte meine Mutter souverän und abweisend auf meine aufgeregten Fragen. "Und erzähl bloß nicht solchen Quatsch herum, sonst kommen wir noch in Teufels Küche. Und wehe, du ziehst das olle Ding noch mal an, dann verbrenn ich es."
Der Verdacht fiel jetzt auf die Familie meines Vaters. Doch der reagierte genauso gelassen. Sein Erzeuger hatte wohl in einer Panzerwerkstatt gearbeitet und war schon früh aus britischer Kriegsgefangenschaft zurückgekehrt. Er starb kurz vor meiner Geburt bei einem Unfall. "Die Jacke hat mal irgendein versprengter Soldat hier vergessen. Bei Kriegsende war doch sowieso alles durcheinander", versuchte mein Vater die Zweifel zu zerstreuen. Das leuchtete mir ein, und ich war beruhigt, vorerst. Was sollte ich sonst auch machen, woher Informationen bekommen? Die meisten Opas, die bis dahin vom Krieg erzählten, arbeiteten komischerweise alle auf Flugplätzen, in Werkstätten oder bei Nachrichteneinheiten. Erschossen hatten die alle nie jemanden. Ich beschäftigte mich nicht mehr damit, bis mein Vater seinen Fünfzigsten feierte. Wir saßen um die Kaffeetafel herum, und alle bewunderten eine goldene Brosche, die meine Mutter an ihrer Bluse trug. "Die ist noch von damals", sagte sie mit melancholischem Blick. "Von wo?", fragte einer der Kaffeegäste. Ein Onkel wandte sich an meine Mutter, während er sich ein Stück Baiser-Torte schmecken ließ, und sagte: "Du hast doch immer von einem kleinen Schmuckladen hinter dem Ghetto Krakau erzählt. Hast du die da her?" Meine Mutter zuckte ein wenig zusammen und schüttelte den Kopf. Ich hustete vor Schreck den Kaffee auf die Tischdecke, während das Thema gewechselt wurde, als sei nichts gewesen. Ich sah meine Mutter mit bohrendem Blick an, sie schaute verlegen nach unten. Ghetto Krakau? Dass sie sich in unmittelbarer Nähe des Ghettos Krakau aufgehalten hatte, hörte ich zum ersten Mal und fand es unfassbar. War etwa meine eigene Mutter Zeugin des Holocausts? Ich war plötzlich ziemlich wütend, und die Geschichte mit dem Parka fiel mir wieder ein. Wir konnten sonst über alles reden. Wieso erzählte sie mir solche Sachen nicht?
Als wir zusammen die Kaffeetafel abräumten, stellte ich sie wütend zur Rede. "Was hattest du denn hinter dem Ghetto Krakau zu suchen?" "Dein Opa war da stationiert." "Aha, und habt ihr da nichts gesehen, da sind die Leute doch gestorben wie die Fliegen, oder nicht?" "Na, da waren doch Posten davor und eine riesige Mauer, Kleener, und wir waren Kinder. Uns hat man doch erzählt, das sind alles Verbrecher." "Und was hat Opa da gemacht?"
"Na, die haben auf dem Flugplatz für Nachschub gesorgt für die Ostfront, Proviant verladen und..." "Bomben, um die Russen plattzumachen", unterbrach ich sie. Meine Mutter schaute mich entwaffnend aus ihren blauen Augen an. "Ja, kann sein, auch Bomben, es war doch Krieg." "Und mit der SS hatte er nichts zu tun?" "Nein, wie oft soll ich dir das noch sagen!"
Damit wimmelte sie mich ab, wollte nicht mehr darüber reden. Ich wühlte abermals Fotos durch, sah meinen Opa auf einem Volksfest in Uniform. Mit einer Lupe inspizierte ich das Bild. War das auf seiner Mütze nicht ein Totenkopf, ein Symbol der SS? Ich konnte es nicht erkennen. Ich durchkramte Schubfächer, den Dachboden. Schließlich fiel mein Blick auf eine altmodische Glas-karaffe, ich hob sie an, und auf dem Boden war eine SS-Rune in das Glas eingearbeitet. Wieder konfrontierte ich meine Mutter damit. Doch jetzt wollte sie gar nichts mehr sagen.
Irgendwann verkaufte ich den Parka an einen Militaria-Händler. Er klärte mich über dessen Herkunft auf. Die genaue Bezeichnung hieß "Tarnschlupfjacke", sie wurde von den Divisionen der Waffen-SS getragen. Für mich war es eine Erleichterung, als das Ding endlich weg war, und damit auch die ständige Erinnerung an dunkle Flecken in unserer Familie.
Doch die Vergangenheit lässt sich nicht so einfach abschütteln. Das merkte ich, als eine Tante starb. Die Grabrede hielt eine resolute Dame mit strengem Gesichtsausdruck. Sie war Anfang 80, sah aber mindestens 20 Jahre jünger aus. Mein Vater erzählte mir, sie sei in der Nazizeit Jungmädelführerin beim Bund Deutscher Mädel (BDM) gewesen und in der DDR später Funktionärin in der SED. Ich traf mich mit ihr, um die Grabrede vorzubereiten. Irgendwann kamen wir auf meinen Opa zu sprechen. "Wollen wir das Detail erwähnen?", fragte sie mich vorsichtig. "Welches Detail?", lautete meine Gegenfrage, die schon voller Vorahnung war. Sie schaute mich mit einem seltsamen Blick an, so als ob sie erstaunt wäre, dass ich keine Ahnung hatte. "Na, dass dein Opa bei der Waffen-SS gekämpft hat."
Die Trauer um meine Tante und diese Information überforderten mich. "Und, äh, wo war er?", fragte ich mit einem Kloß im Hals. "Ich glaube, er war beim Reich, aber mehr weiß ich auch nicht", antwortete sie und meinte damit die 2. SS-Panzerdivision "Das Reich" – eine berüchtigte Truppe, der auch zahlreiche Kriegsverbrechen nachgewiesen wurden. Erst vor wenigen Monaten, im Sommer 2013, hatte Bundespräsident Joachim Gauck ein Dorf in Frankreich besucht, das von einer Einheit der Division dem Erdboden gleichgemacht worden war. Über 600 Menschen waren damals erschossen oder verbrannt worden. Dass mein Opa bei so einem Mörderhaufen Dienst getan hatte, machte mich wütend.
"Natürlich werden wir dieses Detail nicht erwähnen!", schrie ich die Grabrednerin an.
Ihre Trauerrede war dann wider Erwarten sehr emotional und berührte mich sogar. Sie charakterisierte meine Tante richtig und feinfühlig, sehr erstaunlich für eine alte "Nazisse" und spätere Kommunistin. Das "Detail" ließ sie weg und sagte nur, dass mein Opa auf den Schlachtfeldern des Zweiten Weltkrieges gefallen war. Ich atmete auf, doch nur kurz. Denn jetzt, ausgestattet mit den Möglichkeiten des Internets, wurde ich zum Naziforscher. Ich trieb mich bei einschlägigen Anbietern wie "Panzer-Archiv" und "Lexikon der Wehrmacht" herum, recherchierte Dienstalterslisten der SS, studierte Biografien von Kommandeuren und Mannschaftsdienstgraden. Ich sprach "alten Kameraden" auf den Anrufbeantworter, sie riefen nicht zurück. Ich schrieb Faxe und E-Mails, bekam jedoch keine Gewissheit darüber, was mein Opa getan hatte. Auch auf britischen und amerikanischen Naziseiten war ich unterwegs, fand einen SS-Untersturmführer mit dem Namen meines Opas in jener Division, doch Geburtsdatum und -ort stimmten nicht.
Auch bei der Kriegsgräberorganisation hatte ich kein Glück. Als ich nicht mehr weiter wusste, wollte ich die Grabrednerin meiner Tante anrufen, doch die war kurz nach ihr gestorben. Hatte sie sich vielleicht getäuscht? War er vielleicht in einer anderen Division oder gar nicht bei der SS gewesen?
Jetzt wurde meine Suche obsessiv, ich nervte meinen Freundeskreis mit Nazigeschichten, fragte meine Freunde über ihre Opas aus und recherchierte deren Namen. Bei jedem Abendessen lenkte ich die Diskussion auf das Thema, was einige Leute ziemlich befremdlich fanden. Je tiefer ich in der Recherche steckte, umso mehr verlor ich die Kontrolle über mein eigenes Anliegen. Was mein Opa wirklich getan hat und wo er abgeblieben war, fand ich nicht heraus. Irgendwann sagte meine Freundin, dass ich mit diesem "Nazischeiß" aufhören solle.
Ein paar Monate später, als ich mich endlich damit abgefunden hatte, wohl nichts mehr über die Taten meines Opas zu erfahren, lernte ich auf einer Hochzeit Robert kennen. Er arbeitet beim Zentrum für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr. Irgendwann kamen wir natürlich auf meinen Opa zu sprechen. Er erklärte sich bereit, mir bei der Recherche zu helfen. Robert meinte, er könne mit großer Sicherheit herausbekommen, wo mein Opa gedient hat und in welchen Einsatzräumen er tätig gewesen war, und auch, wo er begraben liegt, falls man ihn gefunden hat. Damit ich endlich Sicherheit hätte. Ich dankte ihm und versprach, dass ich mich melden würde.
Ich habe ihn nie angerufen.