Das Nicken des Busfahrers ist kaum zu erkennen. Der zwölfjährige Guido springt auf, lehnt sich in die geöffnete Tür, ruft die Haltestellen aus: „3 de Mayo, Villa Fátima!“ Wie ein Marktschreier, laut, immer wieder. Frauen in traditioneller Kleidung, mit kleinen runden Hüten, dunklen Zöpfen und mehrschichtigen Röcken, Babys auf dem Arm, zwängen sich an Guido vorbei in das Innere Busses. Auf den Gehsteigen putzen Kinder Schuhe. Kinder, immer wieder Kinder: Sie verkaufen Bonbons, Eis, Kaugummi. Mehr als 800.000 der etwa 4,1 Millionen Kinder und Jugendlichen unter 18 Jahren arbeiten in Bolivien, dem ärmsten Land Südamerikas, nördlich von Argentinien gelegen und südöstlich von Peru. Das Ausrufen der Bushaltestellen ist ein typischer Kinderjob, wie viele andere Dienstleistungen auch. Das sind die Sichtbaren. Dazu kommen die, die keiner sieht: die Hausmädchen. Die, die in Werkstätten arbeiten, auf dem Land bei der Zuckerrohrernte, in den Minen in den Bergen.
Guido hat die kurzen Haare ordentlich nach hinten gekämmt, rattert routiniert die Namen der Haltestellen herunter. Erst als jeder Platz im Wagen besetzt ist, gibt der Fahrer dem Jungen eine Münze, 50 Centavos, das sind fünf Euro-Cent. Guido springt ab, drängt sich zwischen rußenden Auspuffen hindurch, sucht den nächsten leeren Bus, in dessen Tür noch kein Ausrufer steht und der ohne Fahrgäste um die Platzmitte kreist. Backsteinbauten umgeben den wuseligen Platz in El Alto, einer rund eine Million Einwohner zählenden Stadt auf 4100 Meter Höhe. Ein Internetcafé, eine Zahnarztpraxis mit ergrauten Vorhängen, Restaurants, aus denen es nach fettigem Hühnchen riecht. Reiche Leute wohnen woanders. Obwohl Kinderarbeit in vielen Ländern per nationaler Gesetzgebung verboten ist und nahezu alle Staaten der Welt die UN-Kinderrechtskonvention ratifiziert haben, arbeiten nach Schätzungen der Internationalen Arbeitsorganisation ILO weltweit etwa 306 Millionen Kinder und Jugendliche zwischen fünf und 17 Jahren, von denen 215 Millionen unter die Definition „Kinderarbeiter“ fallen. Die meisten sind in der Landwirtschaft, in Fabriken oder als Straßenverkäufer, ohne Arbeitsvertrag tätig. In Deutschland und anderen westlichen Industrieländern gilt Kinderarbeit als eine humanitäre Katastrophe – und das oft zu Recht. Schließlich arbeiten Millionen von Kindern unter erbärmlichsten Bedingungen, nicht selten, damit wir billige Jeans und Computer kaufen können. Für einen Hungerlohn ruinieren sie ihre Gesundheit.
Das ist die eine Seite. Es gibt aber noch eine andere: Zu der gehören arbeitende Kinder in Asien, Afrika und Lateinamerika, die sich organisieren und gegen gut gemeinte Gesetze sträuben: „Eure Verbote helfen uns nicht“, sagen sie und fordern Sicherheit am Arbeitsplatz, eine Krankenversicherung, schulkompatible Arbeitszeiten. Man kann sagen: Sie kämpfen für ihr Recht auf Arbeit. Guido schüttelt den Kopf: „Meine Mutter ist eine gute Mutter. Verbietet doch zuerst den Hunger und die Armut, danach die Kinderarbeit!“ Er stammt von den Aymara-Indianern im Hochland Boliviens ab. Seit Evo Morales 2006 zum Staatspräsidenten von Bolivien gewählt wurde, sind die Aymara stolz. Der Präsident ist einer von ihnen. Auch Morales hat als Kind gearbeitet. In der Kultur der indigenen Völker Boliviens übernehmen Kinder früh Verantwortung, gelten von Anfang an als vollwertige Mitglieder der Gesellschaft. Ein 11-Jähriger wurde Bürgermeister einer 5000-Einwohner-Gemeinde.
Der Bürgermeister einer kleinen Gemeinde in Bolivien ist erst elf
Guido hat sich den NATs angeschlossen, das sind die Niños, Niñas y Adolescentes Trabajadores, arbeitende Kinder und Jugendliche. Schon seit Ende der siebziger Jahre organisieren sich Kinder in Lateinamerika; mittlerweile gibt es Zusammenschlüsse arbeitender Kinder in weltweit mehr als 30 Ländern. In Gambia, Senegal, Burkina Faso, Mexiko, Niger, der Mongolei – überall treffen sich die Kinder und stellen Forderungen. In Lateinamerika ist die Bewegung besonders stark, in Peru gehören etwa 14000 Kinder verschiedenen NATs-Gruppen an. In Indien managen Straßenkinder sogar eine von einer Hilfsorganisation initiierte Kinderbank. Damit auch ein Kind, das auf der Straße lebt, ein Konto haben und Geld sparen kann für die Zukunft.
„Schau, acht Bolivianos hab ich schon“, ruft Guido nach etwas mehr als einer Stunde. Er strahlt, zeigt die leichten, silbermatt glänzenden Münzen in der offenen Handfläche, ein Kilo Hühnchen gibt es für 12 Bolivianos (circa 1,30 Euro), Busfahren kostet einen. „Das geb ich alles meiner Mama!“ „Fast alles“, hätte er sagen sollen. Denn bevor es nach Hause geht, wirft er 50 Centavos in einen der Automaten der Spielothek am Platz. Eine Runde Video-Fußball, das muss sein. Die internationale Arbeitsorganisation ILO, die sich weltweit gegen Kinderarbeit einsetzt, kümmert sich vor allem um abhängig beschäftigte Kinder. Angestellte, sozusagen. Aber das ist nur ein kleiner Teil der arbeitenden Kinder. Die meisten sind „selbstständig“, so wie Guido. Sein Vater ist vor acht Jahren gestorben, seitdem ist er der Mann im Haus. Die Mutter hilft einer Freundin bei Schneiderarbeiten, dafür gibt es Essen, aber kein Bargeld. Das braucht sie dringend, seit Monaten hat sie grässliche Bauchschmerzen, kann sich keinen Arztbesuch leisten. Das Neun-Quadratmeter- Zimmer in einem halbfertigen Haus, in dem Guido, seine Mutter und die Schwester wohnen, kostet nichts, weil die Familie den Rohbau bewacht. Doch bald soll das Haus verkauft werden. Dann muss Geld für Miete her. Guido arbeitet auch noch bei einem Schreiner, schmirgelt Tischbeine ab. Wenn der keine Aufträge hat, geht er wie heute zur Plaza und ruft die Bushaltestellen aus. Bei Unicef oder der ILO spricht man nicht gern über die Forderungen der Kinder. Zur ILO-Konferenz im Mai in Den Haag kamen mehr als 450 Experten, aber kein arbeitendes Kind. Dabei widerspricht das der UN-Kinderrechtskonvention, Artikel 12: „Die Vertragsstaaten sichern dem Kind, das fähig ist, sich eine eigene Meinung zu bilden, das Recht zu, diese Meinung in allen das Kind berührenden Angelegenheiten frei zu äußern, und berücksichtigen die Meinung des Kindes angemessen und entsprechend seinem Alter und seiner Reife.“
„Es ist ein Fehler, für die Kinder zu entscheiden, ohne sie anzuhören“, sagt Elizabeth Patiño, ehemals Vize-Ministerin für Kinder, Jugendliche und ältere Menschen in Bolivien, heute Vertreterin von Terre des Hommes. „So lange die Eltern nicht genug verdienen, arbeiten die Kinder. Vernünftige Löhne für die Erwachsenen, das wäre ein erster Schritt. Wir wollen Ausbeutung verhindern, aber den arbeitenden Kindern keine Steine in den Weg legen. Die Programme zur Abschaffung der Kinderarbeit erreichten gerade mal zwei Prozent der arbeitenden Kinder. Und von diesen zwei Prozent haben viele heimlich weiter gearbeitet. Schulbücher kann man nicht essen.“ Auch die Kinder greifen die internationalen Organisationen an: „Die verstehen uns nicht“, sagt Mónica, wie Guido Mitglied der Kinderbewegung in El Alto. „Wir sind doch auch gegen Ausbeutung von Kindern, aber gegen die können wir nicht kämpfen, so lange wir in die Illegalität gedrängt werden.“
Es ist ein stiller Krieg zwischen den Kindern und der ILO. Still, weil die Kinder nicht gehört werden, in internationalen Gremien haben sie keine Stimme. Viele Staaten haben die Abkommen über ein Verbot von Kinderarbeit mit der ILO längst unterzeichnet. Ein Experte für Kinderarbeit der ILO, im Rahmen dieses Artikels angefragt, hatte keine Zeit für ein Interview. Vielleicht war es ihm unangenehm, über die neuen Entwicklungen in Bolivien zu sprechen. Mónica spricht leise und legt die langen braunen Haare mit dem Finger hinter die Ohren. Sie will keine Angeberin sein. Mag schon sein, dass es etwas Besonderes ist, mit zwölf Jahren die Verfassung eines Landes geändert zu haben, das gibt sie zu. Aber das hätte doch jedes Kind gemacht, sagt die heute 14-jährige Bolivianerin, es war ja höchste Zeit. Die Mutter schneidert Röcke, davon kann sie die fünf Kinder kaum ernähren, der Vater hat sich vor Jahren nach Argentinien abgesetzt. Mónica knüpft Armbändchen und Taschen aus bunter Wolle, verkauft sie, hilft der Mutter. Die Brüder arbeiten wie Guido als Ausrufer in den Bussen.
Als Evo Morales 2006 eine neue Verfassung plante, stand im ersten Entwurf: „Kinderarbeit ist verboten“. Mónica und ihre Freunde konnten es nicht fassen: „Wir helfen doch nur unseren Eltern. Und das soll verboten sein?“ Zusammen sprachen sie bei mehreren Abgeordneten vor. Die meisten sagten „ja ja, schön schön“. Doch dann empfing der Außenminister die Freunde. „Es ist unrealistisch, Kinderarbeit zu verbieten“, erklärte ihm Mónica. „Wir müssen arbeiten, sonst essen wir nicht!“ Dann dröselte sie es logisch auf: Wenn Kinderarbeit verboten ist, müssen sich die arbeitenden Kinder verstecken. Und dann wird alles nur schlimmer. Sie werden schlecht bezahlt und ausgebeutet. Arbeiten viele Stunden, müssen gefährliche Jobs machen, und das Schlimmste: Sie können böse Arbeitgeber nirgendwo anzeigen. „Wenn Kinderarbeit nicht mehr verboten ist, können wir für würdige Bedingungen kämpfen und gegen die Ausbeutung“, sagte Mónica, und der Minister nickte. Er brachte sie zur verfassungsgebenden Versammlung, dort wiederholte Mónica ihre Ansprache.
„Danach passierte ein kleines Wunder“, sagt sie. „Das Verbot von Kinderarbeit wurde gestrichen.“ Der Artikel 61 Absatz zwei der bolivianischen Verfassung lautet nun: „Zwangsarbeit und Ausbeutung von Kindern sind verboten. Aktivitäten, die Kinder im familiären und sozialen Rahmen ausüben, dienen ihrer integralen Entwicklung als Bürgerinnen und Bürger und haben eine bildende Funktion.“ Mónica und ihre Freunde jubelten und riefen die anderen Kinder zusammen. „Wir erklärten allen, dass wir nun keine Verbrecher mehr sind“, sagt Mónica. „Aber die Verfassung alleine reicht nicht, sie ist nur die Grundlage. Was fehlt, sind neue Gesetze. Damit wir uns in Zukunft wirklich gegen Ausbeuter wehren können.“
Kinderarbeit
Bis ins 20. Jahrhundert hinein war es in Europa ganz normal, Kinder als Arbeitskräfte in Landwirtschaft und Fabriken einzusetzen. Heute ist Kinderarbeit verboten, weil sie die körperliche und geistige Entwicklung stark beschränken kann. Dennoch arbeiten in Deutschland viele Jugendliche, um sich ihr Taschengeld aufzubessern: Mit Ausnahmen dürfen 13- bis 14-Jährige montags bis freitags kleinere Tätigkeiten wie Babysitten oder Zeitungen austragen übernehmen, und das maximal zwei Stunden am Tag zwischen 8 und 18 Uhr. Ferienjobs sind erst ab 15 Jahren für maximal vier Wochen im Jahr erlaubt.