Während des Studiums vermittelte mir ein Freund einen Job. In einem Hostel wurden noch Nachtwächter gesucht. Es war eine entspannte Aufgabe, die ich gut machen konnte, weil ich tagsüber sowieso erst spät in die Uni musste. Der Dienst begann am frühen Abend und endete zwischen vier und halb fünf am Morgen. Einstellungsvoraussetzungen gab es offenbar keine. Und die Bezahlung war eigentlich auch ganz gut.
Das Hostel war in einem ehemaligen DDR-Plattenbau untergebracht, ein schrottiges Gebäude mit 800 Betten. Die billigste Übernachtung kostete nur zehn Euro, Leute, die spontan buchten, mussten aber bis zu 140 Euro pro Nacht zahlen. Das war ein Grund dafür, dass es unter den Gästen ein ziemliches Konfliktpotenzial gab. Es kamen einerseits viele Schulklassen zu uns, die günstig in Berlin feiern wollten, und andererseits auch Messebesucher und ältere Touristen, die einfach nur ihre Ruhe haben wollten.
Hier kamen wir als Nachtwächter ins Spiel. Wir mussten uns schwarze T-Shirts mit der Aufschrift „Security“ anziehen und ab zehn durch die Gänge laufen. Eine Ausbildung oder Schulung für diesen Job haben wir alle nicht bekommen. Wenn wir irgendwo auf den Fluren betrunkene oder bekiffte Jugendliche fanden, die die anderen Gäste störten, baten wir sie höflich, auf ihre Zimmer zu gehen und etwas leiser zu sein. Meistens funktionierte das auch ganz gut. Ab und zu schmissen auch mal irgendwelche Jugendlichen Flaschen aus den Fenstern ihrer Zimmer oder sprühten Grafitti auf die Wände des Hostels. Auch die machten uns keine größeren Probleme. Die Polizei haben wir höchstens mal gerufen, wenn was gestohlen wurde.
Wenn ab 23 oder 24 Uhr Ruhe war, haben wir es uns gemütlich gemacht. Ab und zu mal ein Bierchen trinken oder Kippen rauchen war auch drin.
Wir machten ihnen eine Ansage
Als ich seit etwa einem Dreivierteljahr Nachtwächter war, checkten eines Abends zwei junge Frauen bei uns ein. Wir wunderten uns ein bisschen, weil sie ihren Ausweisen zufolge in Berlin lebten, kein Gepäck dabeihatten und offenbar auch keine Touristinnen waren. Aber es kam ab und zu mal vor, dass Jugendliche sich bei uns für eine Nacht ein billiges Zimmer buchten, weil sie noch bei ihren Eltern wohnten und dort nicht saufen und rumknutschen konnten. Da die beiden schon 18 waren, war ja nichts gegen einen Besuch unseres Hostels einzuwenden.
Wir machten unsere erste Runde und kontrollierten die Gänge. In einem Gang war es ziemlich laut, und es stank nach Gras. Die Tür zum Zimmer der beiden Mädels war halb offen. Als wir das Zimmer betraten, saßen da aber außerdem zwei Jungs, die wir vorher noch nie gesehen hatten. Wir machten ihnen eine Ansage: „Macht mal beim Kiffen das Fenster auf und die Türe zu. Und seid bitte ein bisschen leiser.“
Beim nächsten Rundgang gegen 23 Uhr erwischten mein Kollege und ich die beiden Jungs schon wieder. Sie saßen in einem Gang und kifften. Das waren in meinen Augen zwei relativ normale Halbstarke. Turnschuhe, Kapuzenpullover, Karottenhose. Keine Gangster jedenfalls. Wir merkten aber, dass die beiden ziemlich viel gesoffen hatten. Da reichte es mir. Ich sagte: „Was macht ihr hier eigentlich? Seid ihr überhaupt Hotelgäste? An der Rezeption waren doch nur die beiden Mädels. Ihr habt hier doch kein Zimmer gebucht!“ Wir schmissen die beiden raus, weil wir den Ärger mit ihnen leid waren. Das war das erste Mal, dass wir so was machen mussten, und ich spürte sofort einen Adrenalinschub dabei. Die Jungs reagierten eigentlich ganz höflich und nett. Ich hatte den Eindruck, dass sie Respekt vor uns hatten. Die Mädels gingen mit und ließen das Zimmer ziemlich vermüllt zurück. Damit war die Sache für uns eigentlich erledigt.
Überall war Blut
Etwa eine halbe Stunde später hörte ich Schreie aus dem zweiten Stock. „Messerstecherei! Messerstecherei!“ Ich sprang sofort auf, lief den Gang runter und konnte noch die beiden Jungs, die wir eben rausgeschmissen hatten, aus dem Hostel fetzen sehen. Oben im Zimmer der Schüler bot sich mir ein krasses Bild. In der Mitte waren Blutlachen, an den Betten klebte Blut und sogar an der Wand. Überall war Blut. Auf dem Boden lag ein Schüler, der sich ein Bettlaken auf Po und Becken presste. Ich war völlig geschockt und wusste gar nicht, was ich tun sollte. Natürlich riefen wir den Notarzt und die Polizei, aber ich hatte Angst, dem Verletzten nicht helfen zu können. Zum Glück gab es noch eine Mitschülerin, die Sanitäterin war und mir den Verbandskasten abnahm.
Von den anderen Schülern erfuhr ich nach und nach, was geschehen war. Die beiden Jungs hatten sich offenbar ins Hostel zurückgeschlichen, waren in das Zimmer der Schüler eingedrungen und hatten einige Mädels angebaggert. Daraufhin hatte es eine wüste Schlägerei mit den Schülern gegeben. Als einer der Jungs überwältigt worden war, hatte der andere gebrüllt: „Lass meinen Freund los!“ Dann hatte er ein Einhandmesser gezückt und wahllos auf einen unbeteiligten Schüler eingestochen.
Aus allen Richtungen rückten Polizeiwagen an. Die hatten auch gleich Spezialisten dabei, die Fingerabdrücke im Zimmer sicherten und Proben des Blutes nahmen. Ich musste die Täter beschreiben. Einer der Polizisten sagte mir, dass die beiden Jungs womöglich zu einer einschlägig bekannten arabischen Großfamilie gehörten. Zehn Minuten später brachten die Polizisten einen Jugendlichen mit schwarzen Haaren, Karottenhose und Kapuzenpullover. Ich sollte ihn bei einer Gegenüberstellung identifizieren, aber es war jemand völlig Unbeteiligtes, den sie da verhaftet hatten. Der verletzte Schüler wurde in die Notaufnahme gebracht und dort genäht. Auch wenn es erst mal schlimm aussah, kam er Gott sei Dank schon nach ein paar Stunden wieder zurück und übernachtete dann sogar bei uns im Hostel.
Ich kann Gewalt nicht einschätzen
Als ich am Morgen nach Hause kam, musste ich mich erst mal beruhigen. Es war eine schreckliche Situation und eine total schräge Nacht gewesen. Die Täter wurden nach ein paar Tagen tatsächlich gefasst, weil sie versuchten, ihr Auto zu holen, das sie vor dem Hostel geparkt hatten. Soweit ich weiß, wurden sie Jahre später zu einer Bewährungsstrafe verurteilt.
Der Job war danach nicht mehr derselbe. Ich bin überhaupt nicht der Typ, der bei solchen Konflikten dazwischengeht, weil ich Gewalt überhaupt nicht einschätzen kann – und auch nicht weiß, wie sich so etwas verhindern lässt. Ich fragte mich, ob mein Rauswurf eine Provokation für die beiden gewesen war. Ich bildete mir sogar ein, dass sie mich irgendwann auf der Straße erkennen und angreifen könnten, weil ich als Zeuge in ihrem Prozess geladen war.
Von einem Tag auf den anderen kündigte ich im Hostel. Es war einfach nicht meine Welt. Mir wurde klar, dass ich mich in eine Situation begeben hatte, in der es eben nicht nur darum ging, harmlose Jugendliche zur Ruhe zu bringen, sondern dass sich diese womöglich mit Waffen dagegen wehren. Ich konnte mit dieser latenten Gefahr überhaupt nicht mehr richtig umgehen. Warum jemand bei einer so banalen Auseinandersetzung ein Messer zückt und riskiert, einen anderen lebensgefährlich zu verletzen oder gar zu töten, verstehe ich noch immer nicht.
Neulich habe ich den Flur, auf dem wir früher patrouillierten, noch mal zufällig auf ProSieben gesehen. Da lief eine Reportage über einen Sicherheitsmann in meinem alten Hostel. Als ich das erkannt habe, habe ich sofort umgeschaltet. Anschauen konnte ich mir das nicht.
Falko Lauch ist ein Pseudonym unseres Autors. Auf ewig mit seiner Zeit als Nachtwächter in Verbindung gebracht werden, das wollte er nämlich lieber nicht.