Beginnen wir mit dem Ende. An diesem steht Jens Balzer an seinem liebsten Ort in seinem liebsten Club, er blickt von oben auf die zuckenden Leiber auf der Tanzfläche des Berghain und entdeckt hier, was er 250 Seiten lang allzu oft vermissen musste. In dem berühmten Berliner Club, vor dem sich allabendlich lange Schlangen mit Feiersüchtigen aus aller Welt bilden, dort wenigstens, freut sich der Autor, herrsche noch eine „Aura der Freiheit“.
Schlicht „Pop“ hat Balzer, Musikredakteur und stellvertretender Feuilletonchef der „Berliner Zeitung“, sein Buch genannt. „Ein Panorama der Gegenwart“, so der Untertitel, verspricht er zu entfalten. In dieser Gegenwart, das ist Balzers grundsätzliche Diagnose, droht die Freiheit aus der Welt der Popmusik getilgt zu werden. Noch allerdings, das beschreibt er mit Leidenschaft in „Pop“, findet er diese Freiheit in gewissen avantgardistischen Musiken und an wenigen Orten wie dem Berghain, das neben dem dominierenden Techno eben auch Platz und vor allem Anonymität bietet für musikalische, soziale und sexuelle Experimente.
Der Pop-Hörer als durchleuchteter Konsument
Denn der Verlust der Freiheit betrifft nicht nur die Kreativen, sondern auch die Konsumenten. Und es betrifft, so Balzers These, nicht nur den kommerziell erfolgreichen Pop, sondern alle Bereiche des Lebens, denn in der Musik spiegelten sich gesellschaftliche Entwicklungen unmittelbarer als in allen anderen Kunstformen. Pop sei der ideale Seismograf der digitalen Moderne. Vor allem für die „Verschränkung von Konsum und Kontrolle im total gewordenen Digitalkapitalismus“, klagt Balzer, sei die Popmusik Vorreiterin. Das werde etwa augenfällig bei den modernen Festivals, bei denen der Musikliebhaber mit Armbändern, die jedes Bier und jede Bratwurst registrieren, zum markierten Herdentier und durchleuchteten Konsumenten wird.
Dem entgegen setzt Balzer eine, wie er es nennt, „Ästhetik des Verschwindens“. Die diagnostiziert er im Auftreten von Superstars wie Beyoncé, die sich bei ihren Auftritten hinter einem Aufmarsch von Tänzern zu verstecken scheinen. Er findet sie aber auch und vor allem in den extremen Spielarten der aktuellen Avantgarde. Die sind für Balzer Heilsbringer, weil sie der Popmusik, wie man sie kennt und sie trotz Absatzkrise immer noch die Charts prägt, Auswege aus der kreativen Sackgasse aufzeigen, indem sie die altbekannte Popästhetik (Songstrukturen, Starprinzip) radikal auflösen.
Allerhand abenteuerliche Alliterationen
Um Entwicklungen wie dieser nachzuspüren, hat Balzer Konzerte besucht. Konzerte in großen Hallen von globalen Popstars wie Céline Dion („paradigmatische Beknacktheit“), von Helene Fischer („mega-eklektische Multimediakünstlerin“) oder Sting („hypernervöse Hektik des Mittelschichtsbürgers“), aber auch Konzerte in kleinen Clubs von avantgardistischen Lärmwerkern wie SunnO))) („Minimalismus der Mittel“) oder Harfe spielenden Folk-Revolutionärinnen wie Joanna Newsom („lange Lieder von Vergänglichkeit, Verfall und Verrat“). Man merkt, Balzer liebt die Alliteration.
Mehr liebt er nur noch das Liveerlebnis. Der 1969 geborene Balzer schöpft für „Pop“ vornehmlich aus seinem reichen Fundus an Konzertkritiken, die er für seinen Arbeitgeber, die „Berliner Zeitung“, in den vergangenen anderthalb Jahrzehnten geschrieben hat. Ein Ansatz, der nicht falsch ist, denn auf der Bühne manifestiert sich die aktuelle Popmusik. Allerdings nicht nur dort: Viele der innovativsten und prägendsten Musiken der Gegenwart werden, der modernen Technik sei Dank, fernab von Bühnen in Wohnzimmern für den Dancefloor entwickelt. Das Kaleidoskop, das Balzer zu zeichnen versucht, ist also ein eingeschränktes.
Vor allem aber verläuft, wie Balzer einmal schreibt, „die Zeit in den Paralleluniversen des Pop in sehr unterschiedlichen Geschwindigkeiten“. Dieses grundsätzliche Problem kann auch der leidenschaftliche Konzerthopper Balzer nicht lösen. Sein Buch findet nicht zu einer kausalen Erzählung, das Kaleidoskop fügt sich nicht wirklich zum schlüssigen Gesamtbild, sondern bleibt eine Sammlung von Schlaglichtern, die vieles über den modernen Pop erzählt, aber eben nicht alles.
Kleine Storys statt der großen Erzählung
Das ist aber nicht so sehr der Fehler des Buches, sondern der des Pop selbst. Früher gab es große Erzählungen, weltweite Phänomene wie Punk oder zuletzt Techno, die den Pop radikal neu definierten. Das hat sich geändert: Heute erzählt Pop nicht mehr eine große Geschichte, sondern viele kleine Storys. Er hat sich, Ausdruck des digitalen Zeitalters und der damit einhergehenden Aufsplitterung der Welt, in Nischen zurückgezogen. Selbst seine globalen Stars besitzen nur noch eine eingeschränkte Relevanz: Elvis kannte einst jeder, einen Kanye West heute längst nicht mehr alle. Aber gerade in seiner Entwicklung zur Nischenkunst ist der Pop ein Abbild einer sich verändernden Welt und so gesehen tatsächlich wohl eine höchst zeitgemäße Kunstform. Das kann man bei Balzer sehr unterhaltsam und oft witzig nachlesen, auch wenn das versprochene „Panorama der Gegenwart“ unvollständig bleiben muss.
Thomas Winkler schreibt schon so lange über Popmusik, dass er noch jene Zeiten erlebt hat, in denen man glaubte, mit dem Indie-Rock-Modell, das Jens Balzer ins einem Buch beerdigt, die Welt retten zu können.
Titelbild: Jörg Brüggemann/OSTKREUZ