Jeden Morgen hilft mir die sengend heiße Sonne, meine meist kurze Nacht zu beenden. Verschlafen, doch durch die hellen Strahlen schon bald geweckt, trapse ich über den Schulhof zur Toilette. Die ersten Schüler sind schon da, sie fegen den Hof und die Klassenräume. „Madam, Madam“, rufen sie mir munter zu, „good morning!“
Seit zehn Monaten werde ich jeden Morgen so freundlich gegrüßt, denn seit zehn Monaten leiste ich meinen Freiwilligendienst in einer Schule nahe Madina, einem Vorort der ghanaischen Hauptstadt Accra.
Ende August landete ich hier, in einem Land, über das ich kaum etwas wusste: Entsprechend verwirrt war ich zu Beginn. Nicht von den quirligen, bunten Märkten und der fremden Sprache – das alles habe ich erwartet, doch da waren andere Dinge, die ich nicht verstand: Warum stehen in vielen Modegeschäften weiße Schaufensterpuppen? Warum wird mir im öffentlichen Minibus der komfortabelste Platz vorne angeboten? Mich verstörte diese scheinbare Ehrfurcht gegenüber allem Europäischen, Amerikanischen, Westlichen. Ich verstand diese Haltung nicht, aus der oft große Bewunderung zu sprechen schien: Warum werden in Ghana – einem Land, in dem sich nur eine absolute Minderheit als weiß betrachtet – Produkte von Menschen mit heller Haut beworben? Sollte helle Haut, wenn man an die lange, grausame Kolonialgeschichte denkt, nicht eher negative Gefühle auslösen?
„Madam, when you go back to Germany – can you take me there?“
Ich brauchte einige Zeit, bis sich meine anfänglich extreme Wahrnehmung relativiert hatte, bis ich verstand, dass manche Dinge auch ganz einfache Gründe haben. Die Schaufensterpuppen stammen aus Europa und werden günstig importiert, wenn sie für die dortigen Boutiquen wegen ihrer Gebrauchsspuren nicht mehr hübsch genug sind. Und der vordere Platz im Bus war eben gerade frei. Dennoch ist das, was ich zu Beginn verstärkt wahrgenommen habe, im Kern wahr: Viele Menschen in Ghana verbinden Europa mit einem scheinbar unbekümmerten Leben, mit Wohlstand und Sorglosigkeit.
Auch die Schüler in meiner Schule scharen sich in der Pause gern um europäische Zeitschriften, die ihnen Verwandte aus dem Ausland zukommen lassen. Und oft kommt dann die Frage an mich: „Madam, when you go back to Germany – can you take me there?“ Von Dingen wie Asylbewerberheimen, der Residenzpflicht, zähen Anerkennungsverfahren, rechtsextremen Parteien und Gewalt gegen die Menschen, die in Asylbewerberheimen leben, wissen sie nichts. Wie auch: Die Alltagsmedien, vor allem das Fernsehen mit seinen billig produzierten mexikanischen TV-Serien, berichten unkritisch und geben der Sehnsucht nach einem Leben in der Ferne nur mehr Nahrung – oder erwecken sie erst.
Um die Schüler besser zu informieren, habe ich nach einer Weile begonnen, Workshops in den höheren Klassen durchzuführen. In etwa zehn Unterrichtseinheiten sprechen wir über Fluchtgründe und -wege, Europas Asylpolitik, das deutsche Asylverfahren, über Lampedusa, Frontex und Dublin II. Ich zeige auf meinem Laptop Bilder von überladenen Schlauchbooten und elektrischen Grenzzäunen. Wir lesen gemeinsam die erschütternde Geschichte des Flüchtlings Farid von der Elfenbeinküste. Ich lasse die Vorlauten der Klasse die Worte „Duldung“ und „Residenzpflicht“ aussprechen und schaue in manchmal etwas verwirrte, meist aber interessierte Gesichter.
Mit diesen Workshops möchte ich die Leute ein bisschen über meine Heimat aufklären und ihr oft eindimensionales Bild von Europa durch ein wenig mehr Realismus anreichern. Und ich hoffe, durch das differenziertere Bild von Europa ihr Selbstwertgefühl und ihren Stolz stärken zu können – den Stolz auf ihr Heimatland, in dem es sich doch gar nicht so schlecht leben lässt. „Bei all euren Vorstellungen von Europa, bitte vergesst nie, was ihr in Ghana habt“, pflege ich in der letzten Einheit zu sagen. „Hier habt ihr eure Familie und Freunde, euer Wetter, eure Kultur, euer Essen. Bitte glaubt mir: Europa kann auch sehr grau, kalt und fremd sein. Ich möchte euch nicht entmutigen – wenn ihr die Möglichkeit habt, zu reisen, andere Länder und Kulturen kennenzulernen, tut das, es ist wunderbar! Aber bitte, versucht es nicht auf dem illegalen Weg, nicht um jeden Preis.“
Entwicklungshilfe – ein arrogantes Wort, in dem so viel Belehrung mitschwingt
Dabei wäre es doch so einfach, den Menschen zu einem differenzierteren Bild von Europa zu verhelfen: Sie müssten es bloß mit eigenen Augen sehen. Und an diesem Punkt hadere ich manchmal mit meiner privilegierten Position, wenn ich vor einer Klasse stehe und von Deutschland erzähle: Ich beantworte neugierige Fragen, ich blicke in überraschte Gesichter, die kaum glauben können, dass es bei uns so kalt werden kann, dass Wasser gefriert, oder dass wir neben Weißbrot auch dunkles Brot essen – diese wissbegierige Neugier der Schüler ist herzerwärmend und wohl derjenigen sehr ähnlich, die ich selbst für Ghana verspürt habe, bevor ich hierherkam. Doch im Gegensatz zu meinen Schülern war es mir möglich, sie zu befriedigen, eine fremde Kultur kennenzulernen und zu verstehen, was den meisten Ghanaern wohl verwehrt bleiben wird.
Ich denke, die Idee des interkulturellen Austauschs und Dialogs ist eine schöne Sache. Jedes Jahr kommen viele deutsche Freiwillige nach Ghana. Doch wie viele Ghanaer haben ihrerseits die Gelegenheit, irgendwann Deutschland zu besuchen? Wie viele Touristenvisa lehnt die Botschaft jeden Tag ab, mit Gründen, die ich persönlich nicht nachvollziehen kann? Wie können wir so stolz von Internationalität und multikulturellem Austausch sprechen, wenn sich all das in einer starren Einbahnstraße abspielt?
Dennoch halte ich meinen Aufenthalt hier nicht für komplett eigennützig, denn er ist immer noch besser als gar kein kultureller Austausch. Und Austausch ist besser als die alte Form von „Entwicklungshilfe“: dieses gefährlich arrogante Wort, in dem so viel Mitleid und Belehrung mitschwingt. Zu Unrecht, denn Ghana braucht mich nicht – mich, eine 19-Jährige, die gerade mal ihr Abitur gemacht hat. Was Ghana meines Erachtens braucht, sind engagierte Ghanaer: Menschen, die Wissen über das eigene Land, die Kultur und Mentalität in sich tragen und wissen, welche Maßnahmen wirklich fruchten. Menschen, die mehr auf Selbstbestimmung und Unabhängigkeit bauen statt auf Abhängigkeit von und Angleichung an Europa.
Und genau denen begegne ich hier jeden Tag. Wir tauschen uns aus, lernen voneinander, lernen einander kennen. Einige von ihnen sind Weggefährten, einige gute Freunde geworden. Und sowohl für mich als auch für sie wird es immer leichter, müheloser und selbstverständlicher, sich zu verstehen.