In der zweiten TV-Debatte der US-Präsidentschaftswahl lieferten sich Hillary Clinton und Donald Trump erneut hitzige Wortgefechte. Die beiden Kandidaten waren aber längst nicht die Einzigen, die in der Nacht von Sonntag auf Montag kräftig austeilten: Auf Facebook konnten Nutzer mit „Reaction-Emoticons“ und Kommentaren in Echtzeit auf das Gesehene reagieren. Der Unterschied zu gewöhnlichem Social-Media-Feedback à la Twitter und Co.: Die Reaktionen wurden direkt in einen Videostream eingespeist und waren so als kollektiver „Liveticker“ für alle Nutzer sichtbar.

Ich wollte herausfinden, was das mit den Zuschauern einer Debatte macht. Schaut man anders, so gemeinsam mit dem digitalen Stammtisch? Ziehe ich meine eigene Wahrnehmung eher in Zweifel, wenn Nutzer Herzchen fliegen lassen, wenn ich mich doch gerade ärgere?

Ab in die Emojiflut!

Um halb drei Uhr morgens nehme ich mein Smartphone, öffne die Facebook-App und starte das Tool „Live-Video“. Der Livestream des Senders ABC News geht gleich los.

Wer das TV-Duell auf einem mobilen Gerät verfolgt, kann zwischen zwei Formaten wählen. In der vertikalen Ansicht schrumpft das Video etwa auf ein Drittel des Bildschirms. Der restliche Platz ist für Kommentare der Nutzer. Ganz schön viel, finde ich.

Den Livestream in voller Bildschirmgröße zu sehen bekommt, wer sein Handy oder Tablet horizontal hält. Die Reaktionen der Nutzer tanzen prominent vom rechten Bildschirmrand aus quer über den Screen: rote Herzchen, blaue Daumen, lachende Smileys, weinende Smileys, erstaunte und zornige Gesichter.

Weil ich die Mimik und Gestik von Trump und Clinton nicht nur erahnen will, entscheide ich mich für das Querformat. Bei diesem „faden“ die Symbole gegen Mitte des Bildes wieder aus, um den individuellen Statements der User Platz zu lassen: Im Zweisekundentakt schieben sich immer neue Kommentare von unten über das Bild – gerade mal lang genug, um sie kurz zu überfliegen und Profilname und -foto flüchtig zu registrieren. Zeit, mir Gedanken zu machen oder eine Meinung zu bilden? Bleibt dabei nicht wirklich.

Während des gesamten Duells kann man verfolgen, wie sich die Nutzerzahlen entwickeln. Zu Beginn der Debatte sind diese – wie man im oberen Screenshot neben dem roten „Live“-Logo sehen kann – nicht besonders hoch. Zumindest im Vergleich zu anderen Facebook-Übertragungen: Ein Video, das zwei Menschen dabei zeigt, wie sie mit Gummibändern eine Wassermelone explodieren lassen, erreichte zum Beispiel 800.000 Nutzer. Der nicht stattfindende Handshake zwischen den Kandidaten dagegen nur 70.000. Im Laufe der Debatte schalten aber immer mehr User zu, nach 20 Minuten sind es um die 250.000.

Auf welche Emoticons klicken die User am häufigsten?

Auffällig ist, dass aus den sechs zur Verfügung stehenden Symbolen fast immer nur drei gewählt werden: zorniger Smiley, Herz und „Like“-Daumen. Zwar schweben die unterschiedlichen Emojis oft gleichzeitig über das Video ...

... einige Male scheint sich die Community in ihrer Meinung aber sehr einig zu sein. Als sich Donald Trump zu seinen kürzlich bekannt gewordenen „Grab her by the pussy“-Kommentaren äußert und erneut behauptet, es handle sich bei den sexistischen Äußerungen nur um „locker room talk“, schweben sekundenlang zornige Gesichter über den Bildschirm:

...

...

Auch, als beide Präsidentschaftskandidaten erklären sollen, welche Änderungen sie für das US-amerikanische Gesundheitssystem – Stichwort „Obamacare“ – planen, wird Trump mit zornigen Smileys überschüttet. Sein Statement „Obamacare will never work. It’s very bad, very bad health insurance“ scheint vielen als Antwort nicht auszureichen. Seine ausweichende Reaktion auf die Frage wird von vielen mit genervten Kommentaren quittiert:

Hillary Clinton, die verspricht, das Gesundheitssystem bei gleichbleibender Qualität wieder kostengünstiger zu machen, erntet überwiegend „Like“-Daumen:

Wie wirken die Livereaktionen auf den Zuschauer?

Ich merke während des Duells zunehmend: Das Tool stresst. Sich auf das Gesagte zu konzentrieren, während man mit Emoticons zugeballert wird, ist schwierig. Sich eine unabhängige Meinung zu bilden, während man ununterbrochen Kommentare anderer User liest – fast unmöglich.

Ich entscheide schließlich, mich einfach zurückzulehnen und den Social-Media-Schwall über mich ergehen zu lassen. Doch auch das funktioniert nicht wirklich: Facebook fordert einen regelmäßig auf, sich an der Diskussion zu beteiligen.

Weil ich sowieso herausfinden wollte, wie schnell ein geschriebener Kommentar online geht, folge ich der Aufforderung. Ohne zeitliche Verzögerung läuft die von mir gestellte Frage über den Bildschirm:

Ich frage mich: Kann man sich sicher sein, dass alle Zuschauer dasselbe sehen? Ist eine gleichmäßige Liveübertragung bei solch einer Flut an Reaktionen überhaupt machbar?

„Technisch gesehen ist die Echtzeitverarbeitung solcher Daten durchaus möglich“, hat mir der Datenwissenschaftler Andreas Dewes vor dem Duell erklärt. Wie die von Facebook eingesetzten Algorithmen und Verfahren arbeiten würden, darüber könne er aber keine genauen Angaben machen: Seines Wissens veröffentlicht Facebook solche Informationen nicht.

Warum bietet Facebook Liveübertragungen und „Reaction-Emoticons“ an?

Facebook wird immer wieder vorgeworfen, durch Algorithmen oder manuelle Eingriffe in den Newsfeed politischen Einfluss auszuüben. Konkrete Beweise dafür gibt es nicht, Gegenbeweise jedoch auch nicht.

Der Journalist Adrian Lobe bezeichnet Facebooks Reaction-Emoticons vor diesem Hintergrund als „hochmanipulativ“. Sie würden „Zustimmung oder Ablehnung suggerieren“, die vermutlich gar nicht gegeben wäre: „Entsprechen die Reactions-Symbole proportional der absoluten Zahl der Klicks, was sie repräsentativ machte? Werden Meinungsbilder korrekt widergespiegelt? Oder werden Reaktionen gefiltert, um Stimmungen zu kanalisieren oder womöglich gar zu erzeugen?“, fragt Lobe in der „FAZ“.

Was passiert mit Hate Speech?

Während Clinton und Trump über Gesundheitssystem, E-Mail-Skandal und frauenverachtende Äußerungen streiten, muss ich mehrmals ganz schön schlucken. Aber weniger wegen dem, was die beiden sagen. Sondern mehr wegen dem, was andere Zuschauer schreiben. Zahlreiche Kommentare, die es so sicher nicht in klassische Medien geschafft hätten, werden im Facebook-Stream eingeblendet. Darunter waren vor allem beleidigende Äußerungen ...

... und sexistische Kommentare.

Gewaltfantasien kommen genauso vor ...

... wie nationalsozialistische Äußerungen:

Ob Facebook mit der Übertragung tatsächlich politischen Einfluss ausüben will? Oder zielt das Unternehmen darauf ab, Nutzer möglichst lange auf seiner Seite zu halten? Nach dem Livestream ist für mich jedenfalls eines klar: Das Unternehmen begleitet den Wahlkampf nicht nur, sondern beeinflusst ihn aktiv. Im Vergleich zu den Zuschauern, die das TV-Duell vor dem Fernseher verfolgen, wird der Facebooknutzer sowohl Empfänger als auch Sender von Informationen – und erreicht damit nicht nur seine eigenen Follower, sondern potenziell Hunderttausende Menschen weltweit. Kein Wunder also, dass ich nach 90 Minuten digitalem Stammtisch völlig geschafft bin. Ich bin froh, als der Emoji-Strom endlich versiegt, und beschließe vor dem Einschlafen: Beim dritten TV-Duell dann lieber wieder die Zusammenfassung am nächsten Morgen anschauen.