Wie ein Häufchen Elend kauert Sandra in der Eröffnungsszene von „Zwei Tage, eine Nacht“ auf ihrem Bett. Der erste Griff nach dem Aufstehen geht zur Schachtel mit den Beruhigungstabletten. Sandra ist down. Ihr Gesicht wirkt farblos, dunkle Ringe zeichnen sich unter ihren Augen ab, und die Haare bindet sie achtlos mit einem Gummi zusammen. Die Frau steckt in einer seelischen Krise, aber wie immer in den Filmen von Jean-Pierre und Luc Dardenne haben die psychischen Leiden eine soziale Ursache.

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Alle für Eine? Oder alle gegen Eine? Im Raubtierkapitalismus ist sich jeder selbst der nächste (Foto: Christine Plenus / Alamode Film / Wild Bunch Germany)

Alle für Eine? Oder alle gegen Eine? Im Raubtierkapitalismus ist sich jeder selbst der nächste

(Foto: Christine Plenus / Alamode Film / Wild Bunch Germany)

Sandra hat gerade ihren Job verloren. Erst wurde sie krank, dann gefeuert. Vielleicht ist sie nur deswegen krank geworden, weil die Arbeitsbedingungen im Niedriglohnsektor eben prekär sind. Wie menschenverachtend mit dem „humanen Kapital“, wie es in der modernen Arbeitswelt heißt, verfahren wird, zeigt sich am Umgang mit den Schwächsten. Mit dem Argument der Wirtschaftlichkeit wurden Sandras Kollegen und Kolleginnen vor die Wahl gestellt: Entweder Sandra darf bleiben, oder die Angestellten erhalten eine einmalige Bonuszahlung in Höhe von je 1.000 Euro.

Die erste Abstimmung hat Sandra deutlich verloren. Mit Solidarität ist am Rande des Existenzminimums eben nicht zu rechnen. Doch weil sie dank der fürsorglichen Unterstützung ihres Mannes noch einmal Reserven freisetzt, erstreitet sie sich die Chance auf eine Neuwahl. So beginnt „Zwei Tage, eine Nacht“. Ein Wochenende hat sie Zeit, ihre Kollegen umzustimmen und damit die Kündigung rückgängig zu machen.

Diese Ausgangssituation klingt etwas weit hergeholt. Man möchte sich kein Arbeitsrecht vorstellen, das die Anstellung und Kündigung von Arbeitskräften der eigenen Kollegenschaft überlässt. In einem idealtypischen Sozialismus würde das vielleicht funktionieren – im Kapitalismus setzt sich am Ende aber doch eine „Fressen oder gefressen werden“-Mentalität durch.

Dabei sind Jean-Pierre und Luc Dardenne weniger an einer Kritik der modernen Arbeitsverhältnisse interessiert, ihnen geht es um eine Sozialdiagnose. Und die fällt in „Zwei Tage, eine Nacht“ ernüchternd aus. Die erschöpfte Sandra muss jede ihrer 16 Kolleginnen und Kollegen mit deren Entscheidung konfrontieren. Der Film liefert auf diese Weise einen differenzierten, aber auch wenig hoffnungsvollen Einblick in das heutige Arbeitermilieu. Denn den Kollegen ergeht es letztlich nicht anders als Sandra. Selbst die, die hier Arbeit haben, leben prekär. Ein Familienvater verkauft in seiner Freizeit alte Ziegelsteine, um die Schule für seine Tochter zu bezahlen; ein anderer arbeitet in seiner Freizeit schwarz beim Gemüsehändler.

Der Film bezieht keine moralische Position

1.000 Euro haben oder nicht haben. „Das bedeutet für uns ein Jahr Strom und Gas“, erklärt ein grundsätzlich mitfühlender Arbeitskollege. Die Dardenne-Brüder beziehen keine moralische Position gegenüber denjenigen, die für 1.000 Euro eine Kollegin in die Arbeitslosigkeit schicken würden. Sandra sagt einmal, sie wisse ja selbst nicht, wie sie handeln würde. Was bleibt, ist ihre resignierte Feststellung, die sie bei jedem Gespräch wiederholt: „Es ist nicht fair, euch vor die Wahl zu stellen.“

Aber der Wunsch nach Gerechtigkeit ist vielleicht auch etwas naiv. Ihre Würde haben sich die Dardenne-Heldinnen schon in früheren Filmen erkämpfen müssen. Sandra allerdings verfügt kaum noch über die Kraft, um sich gegen die Verhältnisse zu stemmen. Mutlos schleppt sie sich von Haus zu Haus: gezwungen in die Rolle der Bittstellerin und immer wieder ermuntert von ihrem Ehemann. Könnte sie sich nicht auf ihr kleines Netzwerk von Unterstützern und Helferinnen verlassen, Sandra wäre verloren. Und so setzen ihre Hausbesuche allmählich einen Erkenntnisprozess in Gang. Mit den Konsequenzen der anonymen Abstimmung konfrontiert, beginnen die Kollegen die Tragweite ihrer Entscheidung zu realisieren.

Jean-Pierre und Luc Dardenne haben in ihren Filmen immer auf die Solidarität der „kleinen Leute“ als gesellschaftliche Kraft gesetzt. Mit „Zwei Tage, eine Nacht“ bringen sie ihr Plädoyer für den Wert des Menschen in seine bisher klarste erzählerische Form: Das Ergebnis ist buchstäblich zählbar. Am Ende kann Sandra sich ein schwaches triumphierendes Lächeln abringen, auch wenn sie noch etwas erschöpfter als zu Beginn aussieht.