Europäer benutzen „USA“ und „Amerika“ gerne synonym. Dabei könnten die Unterschiede kaum gravierender sein. Die Vereinigten Staaten von Amerika sind eine Nation mit einem schwarzen Präsidenten, der sich in den letzten acht Jahren dafür eingesetzt hat, die sozialen Gegensätze in seinem Land zu überwinden. Mit dem Ergebnis, dass die USA heute fast wieder so gespalten sind wie zur Zeit der afroamerikanischen Bürgerrechtsbewegung in den 1960er-Jahren. Amerika dagegen ist der Mythos. Jeder verbindet eine andere Idee mit diesem Wort – Wilder Westen, land of the free, das Streben nach Glück, nach Reichtum, das Recht auf Waffenbesitz, McDonald’s, Hollywood, Hip-Hop –, für die meisten aber bleibt Amerika ein in seiner Widersprüchlichkeit faszinierender Sehnsuchtsort.
„Wir wollen Amerika erkunden“, erzählt der charismatische Jake (Shia LaBeouf), der 18-jährigen Star (Sasha Lane), als sie sich das erste Mal auf dem Parkplatz einer dieser berüchtigten Shoppingmalls begegnen, in denen amerikanische Teenager in den Vorstädten große Teile ihrer Jugend verbringen. Der Junge gehört zu einer Gruppe von Ausreißern und Partykids, die in einem klapprigen Bus den Mittleren Westen abfahren und an Haustüren Zeitschriftenabos verkaufen. Ohne zu zögern schließt sich Star den Reisenden an, die ihr einen Ausbruch aus ihrem bisherigen Leben versprechen.
„American Honey“ von der britischen Regisseurin Andrea Arnold ist so klug, „USA“ und „Amerika“ zusammenzudenken. Wahrscheinlich musste erst eine Außenstehende kommen, um einen so genauen und neugierigen Blick auf dieses gewaltige Land zu werfen, dessen geografisches Zentrum, das sogenannte heartland, vor allem aus Staub und Highways zu bestehen scheint. Arnold sieht die Wunden und die Träume, so unerreichbar diese auch für die Jugendlichen sein mögen, und sie hüllt sie in ein warmes, honigfarbenes Gegenlicht, das dem Titel ihres Films alle Ehre macht.
Ein etwas anderes Roadmovie
Vor allem geht sie ganz nah ran. Fast drei Stunden fühlt man sich mit den Kids im Kleinbus oder in billigen Motelzimmern fast eingepfercht, nimmt unmittelbar teil an den Ritualen und dem gemeinsamen Singen und taucht ein in die zähflüssigen Hip-Hop-Beats, die fast pausenlos aus den Boxen quellen.
Die Solidarität, die der Film dabei für seine Figuren entwickelt, hat viel mit der Art und Weise zu tun, wie Arnold die Jungen und Mädchen filmt: in expressiven Close-ups, in ständiger Interaktion miteinander, eingefangen in fließenden, organischen Einstellungen, ohne in typischen Handkamera-Naturalismus zu verfallen. Ihre jugendlichen Darsteller/-innen, bis auf Shia LaBeouf allesamt Laien, sind sensationell – allen voran Sasha Lane, die zuvor als Kellnerin gejobbt hat.
„American Honey“ ist auch ihre Geschichte, so wie die von Millionen anderer amerikanischer Teenager ohne Perspektive. Am Anfang des Films sieht man Star in einer Mülltonne nach Essensresten für sich und ihre jüngeren Geschwister wühlen. Solche Bilder durchbohren immer wieder die wachtraumartigen Reiseimpressionen, sie erden den Film in einer sozialen Wirklichkeit. Euphorie und Ernüchterung liegen oft eng beieinander.
Rasender Stillstand
Das Roadmovie ist das mythische Genre, in dem das Kino von Amerika erzählt, von der Weite der Landschaft und dem Gefühl der Freiheit. Doch Arnold geht diesem Mythos nie auf den Leim. Sie erzählt auch von den USA im Jahr 2016. Denn die Freiheiten in „American Honey“ sind vergänglich. Die Jugend ist die Phase, in der die Freiheitsversprechen noch die einzige Wahrheit darstellen. Grenzen erfahren die Kids, wenn sie mit der Außenwelt, christlichen Müttern und Cowboys, den Relikten eines vergangenen Amerikas, in Berührung kommen.
Ihre Jugend ist der Schutz vor dieser Welt und Arnold verstärkt die Wirkung dieses Ausnahmezustands immer wieder mit hypnotischen Zeitlupen. Draußen rauscht die Landschaft vorbei, doch im Inneren des Busses herrscht rasender Stillstand. „American Honey“ macht diese widersprüchlichen Stimmungen auf atemberaubende Weise fühlbar.
„American Honey“; Regie und Drehbuch: Andrea Arnold, Kamera: Robbie Ryan, mit: Shia LaBeouf, Sasha Lane, Riley Keough, McCaul Lombardi, 163 Min.