Spätestens mit der ersten Kolumbus-Fahrt im Jahr 1492 brach in Europa ein neues Zeitalter an. Unbekannte Länder rückten plötzlich in den Fokus, und eine große Reisewelle setzte ein. Die Erweiterung des eigenen Wissens war dabei ebenso Triebfeder wie rücksichtsloses Macht- und Bereicherungsstreben. Zum Sinnbild maßloser Gier avancierte die Suche nach dem sagenhaften Goldland El Dorado, bei der so mancher Eroberungszug in sein Verderben rannte. Entwicklungen, die der deutsche Ausnahmefilmer Werner Herzog in seinem frühen Meisterwerk "Aguirre, der Zorn Gottes" (1972) zu einem sogartigen Kinoerlebnis verdichtet.
Berühmt ist der Film nicht nur wegen seiner visionären Bilder. Auch die turbulente Produktionsgeschichte sorgte für einige Aufmerksamkeit. Unmenschliche Drehbedingungen im Hinterland Perus und wiederholte Wutausbrüche von Hauptdarsteller Klaus Kinski kosteten Kraft und Nerven, zwangen den schon damals grenzgängerischen Regisseur aber nicht in die Knie. Der exzentrische Kinski, der hier zum ersten Mal mit Herzog zusammenarbeitete, spielt Lope de Aguirre, einen – historisch verbürgten – spanischen Eroberer, der 1560 an einer fiktiven Expedition unter Führung Gonzalo Pizarros teilnimmt. Da der Zug nur schwer vorankommt, soll ein Voraustrupp auf dem Wasserweg nach Proviant und Hinweisen auf das Goldland suchen. Die Befehlsgewalt erhält Pedro de Ursúa, dessen Autorität Aguirre jedoch von Anfang an untergräbt. Bei einer Meuterei bricht er mit der Krone und führt die verunsicherte Mannschaft in den Untergang.Kinski als Aguirre
Beeindruckender Abstieg
Wenngleich Konventionen des Abenteuerfilms hervorscheinen, wendet sich Herzog von klassischen Erzählmechanismen ab. Wie so viele seiner Arbeiten, lebt auch "Aguirre, der Zorn Gottes" von einer eigenwilligen Mischung aus quasi dokumentarischen und surrealen Momenten. Das unterstreicht schon der atemberaubende Einstieg, der eines der Lieblingsthemen des Regisseurs bebildert: das Ringen des Menschen mit der Natur. Zu hypnotischen Klängen steigen die Eroberer und ihre indigenen Sklaven einen steilen Abhang hinab. Sie wirken wie kleine Ameisen, die sich den Berg herunterquälen, während die Kamera näherkommt, um schließlich mit der Expedition in den Urwald abzutauchen. Fortan erleben wir hautnah und unverstellt, wie der Tross durch das Dickicht stapft und dabei auch mit sich selbst zu kämpfen hat. Errungenschaften der Zivilisation – ein Pferd, eine Kanone und Sänften – werden mitgeführt, sind für das unwegsame Gelände aber vollkommen ungeeignet. Dementsprechend lächerlich erscheint das beschwerliche Vorankommen.
Europäische Ignoranz
Die ideologische Verblendung der Europäer parodiert Herzog mit unerbittlicher Konsequenz. Obwohl sich Aguirre von der Krone lossagt, bleiben er und seine Gefolgsleute westlichen Denkschemata verhaftet. Wie es sich für zivilisierte Menschen gehört, wählen sie nach der Rebellion einen der Ihren zum "Kaiser" von Eldorado und verurteilen Ursúa in einem Schauprozess, halten also an formalen Verfahrensweisen fest, um ihren Aufstand zu legitimieren. Szenen, die vor der urtümlichen Dschungelkulisse reichlich absurd anmuten. Vor allem, wenn man bedenkt, dass das neu ausgerufene Eldorado-Reich eine Wunschvorstellung bleibt. Nichts deutet auf eine baldige Entdeckung hin. Im Gegenteil, je länger die Reise dauert, desto weniger geht es voran. Die Eroberer meiden den Urwald und treiben auf einem provisorischen Floß dahin, klammern sich aber weiter an ihre Allmachtsfantasien. So nimmt der "Kaiser" in einer grotesken Geste vom Fluss aus alle umliegenden Ländereien in Besitz. Gebiete, die der abgebrannte Haufen weder kennt noch kontrollieren kann.
Die europäische Arroganz spiegelt sich auch im Umgang mit den Ureinwohnern, die nur als Missionierungsobjekte oder Wegweiser zum Gold von Interesse sind. In den Augen der Spanier handelt es sich um primitive Wilde, deren Unterwerfung gutes Christenrecht ist. Bezeichnenderweise bleiben sie bis kurz vor Schluss nahezu unsichtbar. Dann allerdings lässt es Herzog zu einem – historisch inspirierten – Zusammenstoß kommen, der die kulturellen Missverständnisse exemplarisch umreißt: In Unkenntnis der Schrift hält sich ein Indianer die ihm überreichte Bibel ans Ohr, um dem Wort Gottes zu lauschen. Doch weil das Buch nicht zu ihm spricht, wirft er es zu Boden und wird umgehend ermordet.
Wahn und Tod siegen
Da eine Annäherung an die andersartige Natur und deren Bewohner ausbleibt, steuern die Spanier unweigerlich dem Abgrund entgegen. Realität und Fantasie verschwimmen immer mehr. Wunderbar zum Ausdruck kommt der rettungslose Fieberwahn in Kinskis irrwitziger Abschlussrede. Der Regisseur zeigt uns hier eine monströse Führerfigur, die noch immer von Eroberung und Ansehen träumt, dabei allerdings über ein verwahrlostes Floß humpelt und bloß zu einem kreischenden Affen spricht. Die Expedition ist an ihrem Ende angekommen, hat keine Zukunft mehr, wie auch die nun einsetzende Kreisfahrt der Kamera betont.
"Aguirre, der Zorn Gottes" ist eine Reise ins Herz der Finsternis, die westliches Überlegenheitsdenken hinterfragt, geschichtliche Grausamkeiten thematisiert und unvergessliche Bilder heraufbeschwört. Ein Meilenstein des deutschen Films, der über die Jahre nichts von seiner Faszination eingebüßt hat.