fluter.de: Avi, Ihr Buch erzählt über Ihre Kindheit und Jugend im Israel der 1970er- und 1980er-Jahre. Sie erzählen die lustige Geschichte, wie Ihre musikalische Sozialisation mit einem TV-Auftritt einer deutschen Popband begann.
Avi Pitchon: Wenn Leute ihre musikalischen Initiationserlebnisse beschreiben, dann beginnt die Geschichte meist mit etwas, das mehr Geschmack beweist. Nicht mit einer Band wie Dschinghis Khan. Aber das ist die Wahrheit, was soll ich machen?
Sie sind vermutlich nur ehrlicher als die meisten anderen.
Dschinghis Khan waren die deutschen Repräsentanten beim Eurovision Song Contest, der 1979 erstmals in Israel ausgetragen wurde. Ich interessierte mich damals für Science-Fiction und alte Kulturen. Mongolen, Hunnen und Wikinger. Mein erstes Comic war „Conan, der Barbar“. Dschinghis Khan waren also das Missing Link zur Musik. Die Theatralität der Band hat mich angesprochen. Es waren die außermusikalische Elemente, die Kostüme und das „Hu! Ha!“ des Songs, die mich angezogen haben, aber auch die Wildheit der Band. Ich war fasziniert und begann bald nach anderen Bands Ausschau zu halten, die sich kostümierten. So kam ich erst zu den Village People, dann aber bald zu Kiss, David Bowie, Nina Hagen und Johnny Rotten. Mich interessierten ihre Kostüme, ihre Mimik und natürlich der Lärm.
Ihr Buch handelt von einem jungen Mann, der gegen die Welt der Eltern rebelliert. Zum ersten Mal verwandeln Sie sich an Purim, dem jüdischen Pendant des Karnevals, zu einem Punk.
Das ist der Moment, dein neues Aussehen zu testen, bevor du damit ernst machst.
Sie versuchen nicht zu erklären, was der Hintergrund Ihres Sich-Fehl-am-Platz-fühlens ist. Aber Sie erzählen, dass Ihnen als Kind Sirenen Angst machten, und erwähnen, dass Ihre Mutter die Naziherrschaft in Europa überlebt hat.
Ich kann meine Entscheidungen bis zu einem gewissen Punkt erklären, aber es bleibt immer ein geheimnisvoller Rest. Es gibt ganz konkrete Einflüsse, die damit zusammenhängen, dass der Holocaust zu meiner Familiengeschichte gehört. Aber das teile ich mit vielen Israelis.
Die keine Punks wurden.
Richtig. Das allein ist also als Erklärung nicht genug, aber sicher ein Teil. Wenn mir jenamd auf dem Gehweg entgegen kam, wechselte ich die Straßenseite. Das Grundgefühl war, dass andere Menschen eine potenzielle Bedrohung darstellen. Das kann ich mit den Erfahrungen meiner Mutter in Verbindung bringen. Ich weiß nicht mehr, wie viel ich darüber im Buch erzählt habe.
Sie erzählen nichts darüber.
Sie stammte aus der Slowakei und musste sich mit ihrer Familie zehn Monate lang in einem Bunker im Wald verbergen. Die slowakische Familie, die sie dort versteckt hat, wurde vor kurzem mit dem Titel „Gerechte unter den Völkern“ geehrt. Auf Hebräisch nennt man das Psychologie für einen Schekel.
Küchenpsychologie.
Man muss kein Psychologe sein, um zu verstehen, dass meine Mutter, der eingebleut wurde, nicht zu weinen, weil das ihren Tod bedeuten könnte, als Kind gelernt hat, dass Leben sich vor anderen verstecken heißt. Das hat sie an mich weitergegeben. Ich habe die Vorstadt, in der ich aufgewachsen bin, als langweilig und hässlich empfunden, das ist eine Abstraktion von Bedrohung. Meine Generation wuchs außerdem in patriarchalisch strukturierten Familien auf. Aus Gründen, die ich mir ebenfalls nicht erklären kann, empfand ich das so stark, dass ich Anarchist wurde.
Und Feminist.
Richtig. Ich schloss aus meiner Erfahrung dieser familiären Struktur, dass jede Macht und jede Autorität problematisch, destruktiv und unterdrückend sind.
Punk zu sein, sich provokant zu kleiden, war damals skandalös – in Deutschland war das nicht anders. Wollte man mit solchen Outfits die Autorität herausfordern, sich zu zeigen?
Auf den ersten Blick scheint es absurd zu sein, sich aus Angst vor den anderen so zu kleiden, dass man ihre Aufmerksamkeit und ihre Aggression auf sich zieht.
Man fordert es heraus.
Das ist ein interessanter Gedanke: Weil das ohnehin passieren wird, macht man eine Show daraus. Aber auch das Gegenteil ist richtig: Es distanziert die anderen. So ein Outfit ist wie eine Ritterrüstung. Die Leute wissen nicht damit umzugehen und lassen dich in Ruhe. Als ich 16 war, dachte ich, Anarchismus sei die Wahrheit, eine völlig rationale Entscheidung: der logisch erscheinende Weg, sein Leben als Mensch zu führen. Heute weiß ich, dass es ein Weg war, meine Angst und meine Wut durch ein System zu rationalisieren.
Als Sie Punk wurden, gab es bereits Punk-Bands wie HaKlick oder Killer Halohetet in Israel. Aber damit konnten sie nicht so viel anfangen?
Ich war auf meine eigene Weise engstirnig. Sie kennen das vielleicht aus Deutschland. Die lokalen Versionen einer Popkultur werden viel strenger beurteilt, weil man die Details besser sehen und verstehen kann. In eine Band aus England kann man seine Fantasien viel besser projizieren. Punk brannte seit den Siebzigern in Israel zwar schon, aber auf leiser Flamme. 1982 änderte sich das. Der Pinguin Club wurde in Tel Aviv eröffnet, ein Jahr später Kolnoa Dan. Die Betreiber luden wichtige Bands aus dem Ausland ein. Bauhaus, Siouxsie and the Banshees oder Marc Almond. Das gab es vorher nicht. Die Szene in Tel Aviv fand in Echtzeit statt.
1982 begann auch der Libanonkrieg.
Und eben das war die spezifische und wesentliche israelische Komponente. Der israelische Konsens hatte 1973 erste Risse bekommen, als das Land im Jom-Kippur-Krieg überfallen und fast besiegt wurde. Das war traumatisch. 1982 dann war das Land über der Frage gespalten, ob dieser Krieg gerechtfertigt und notwendig war. 18, 19 Jahre alte Soldaten, die ihre Freunde hatten sterben sehen, kamen für ein Urlaubswochenende nach Hause. Manche gingen in die neuen Clubs, wo man sich wie in New York, London oder Berlin fühlen konnte. Und eben das wollten sie auch.
Der Krieg wurde von vielen als israelischer Angriffskrieg gewertet. War das ein Anlass für die Punks, sich vom Zionismus, also der Idee der Rückkehr der Juden in ihre historische Heimat, zu distanzieren?
Wir schufen eine Kultur, die sich vollkommen vom israelischen Ethos lossagte. Ohne das ausdrücklich zu sagen, hatte das eine politische Bedeutung. Punk war die erste postzionistische Kultur, noch bevor der Begriff des Postzionismus formuliert wurde. Ich wurde 1968 geboren. Als ich klein war, war Israel ein starkes Land, das das Recht auf seiner Seite hatte. Das war ein mächtiges Gefühl, aber es verschwand, und man begann sich nach einem Ersatz umzusehen. Der Drang, alles Israelische abzulehnen, entstand aus einer fast unbewussten Erinnerung an seine ursprüngliche zionistische Utopie.
Sie haben sich enttäuscht, betrogen gefühlt, weil Sie sich plötzlich auf der falschen Seite der Geschichte fühlten?
Absolut. Ich wurde also Anarchist, Pazifist, Antizionist. Interessanterweise bekam der Begriff des Jüdischen erst eine Bedeutung für mich, als ich Israel tatsächlich verlassen habe. Ich habe in London und Berlin gelebt. Wenn man als israelischer Jude in Berlin lebt, wird man mit der Frage ständig konfrontiert, weil unsere Geschichten miteinander auf ewig verknüpft sind. In Berlin bekam ich ein Buch eines jüdischen Poeten in die Hand, der in den Zwanziger zwischen Berlin, Warschau und Lwow pendelte. Er und seine Freunde veröffentlichten Untergrundmagazine und führten ständig Diskussionen. Als ich das las, dachte ich: Genau das haben wir in den Neunzigern in Tel Aviv auch gemacht. Erst außerhalb von Israel wurde mir bewusst, dass ich Teil einer Kontinuität jüdischer Dissidenten und Bohemiens bin: Ja, ich bin jüdisch, führe eine jüdische Tradition fort, und das hat nichts mit Religion zu tun.
Vielleicht doch. Die jüdischen Intellektuellen führten doch auch die Tradition fort, jedes einzelne Wort in der Bibel kritisch zu hinterfragen und um die beste Interpretation zu streiten.
Stimmt. Ich habe außerdem verstanden, dass für die Generation meiner Eltern und Großeltern der Zionismus dasselbe wie für mich Punk war. Das war ihr Weg, sich von ihrer Umgebung loszusagen. Das hat aber nichts daran geändert, wie ich Israel sehe. Das Land ist, wie irgendwann jedes utopische Projekt, in großen Schwierigkeiten.
Welche Rolle spielt Popkultur heute in Israel?
Die Jungen, die heute Musik machen, sind stärker, als wir es waren. Sie wissen mehr. Ich kenne 20-Jährige, die unsere Zeit romantisieren, weil sie verstanden haben, dass wir keine Perspektive hatten. Sie wünschen sich, sie könnten auch so sein. Sie haben das Gefühl, aus dem Paradies vertrieben worden zu sein. Sie sind viel zynischer, nihilistischer und eskapistischer als wir es waren. Aber man kann das auch positiv beschreiben: Sie sind nicht naiv, sie haben keine Illusionen. Sie glauben an keine politische Agenda. Sie verschwenden ihre Energien nicht mit Dingen, die konkret zu gar nichts führen.
Alle Fotos mit freundlicher Genehminung von Avi Pitchon