Als der russische Grenzbeamte mein Journalistenvisum sieht, interessiert ihn eine Frage ganz besonders: „Recherchieren Sie zu politischen oder kulturellen Themen?“ Natürlich Letzteres, antworte ich und übe mich in meinem süßesten Lächeln. Denn Platz für freie Kritik an der Politik gibt es in Russland ziemlich genau nur an drei Orten: in der Küche, auf Facebook und wenn man bei einem der wenigen staatsunabhängigen Medien landet, dann in der Kommentarspalte.
Investigativjournalismus ist die rote Linie, Berichte zum Gesundheitszustand des Präsidenten oder den wirtschaftlichen Machenschaften seiner Tochter Katerina Tichonowa sind die doppelte rote Linie. Wer sie überschreitet, wird einen Kopf kürzer gemacht – zumindest symbolisch.
Ich sitze in der Redaktion der „Nowaja Gaseta“, einer der letzten unabhängigen und kritischen Zeitungen Russlands. Seit der jüngsten Entlassungswelle von Chefredakteuren in Russland vielleicht sogar der letzten kritischen Zeitung. Im Ausland ist sie bekannter als in Russland selbst, wo sie mit einer Auflage von unter 200.000 Exemplaren so wenige Leser hat wie noch nie. „Planjörka“, schreit einer der Redakteure durch die Gänge, „Planjörkaaaaaa!“ und ruft damit zur allmorgendlichen Planungssitzung auf. Ein Redakteur nach dem anderen trudelt ein. Ein Telefon klingelt. In der Luft steht kalter Rauch. Die Moskauer Wintersonne will sich mal wieder kaum zeigen. Auf dem Tisch der Planungsrunde liegen die neuesten Mitbringsel aus Amerika: lustige „Putin-Trump“-Gadgets, die später „in unser Museum“ sollen, schmunzelt der Chefredakteur Dimitri Muratow und meint damit wohl die altertümlichen Glasvitrinen auf den Gängen. Dort stapeln sich neben allerlei Krimskrams und Auszeichnungen auch bedeutende Ausgaben, beispielsweise die mit dem Abschuss des Flugzeugs MH17 auf dem Weg nach Kuala Lumpur, in dem viele niederländische Passagiere saßen. „Vergebt uns, Niederlande“, titelte die „Nowaja Gaseta“. Ein Bild, das um die Welt ging, während die russische Führung eine Mitverantwortung vehement abstritt.
Es beginnt eine eigentlich stinknormale Redaktionskonferenz. Eigentlich. Hingen da nicht sechs Schwarz-Weiß-Fotografien, die mir sofort ins Auge fallen. Sie sind prominent platziert, genau über dem großen Tisch der Redaktionskonferenz. Mahnmal und Erinnerung an ermordete Kollegen: Anna Politkowskaja, vor zehn Jahren im Fahrstuhl zu ihrer Moskauer Wohnung mit Schüssen in Brust und Kopf umgebracht. Igor Domnikow, 2000 in Moskau erschlagen. Natalja Estemirowa 2009 entführt und umgebracht. Kritischer Journalismus als Todesurteil.
„Niemand garantiert dir hier die Unversehrtheit von Journalisten“, erzählt mir Kirill Martynow, politischer Redakteur der Zeitung, später: „Das war schon früher so und hat sich jetzt noch mal verschärft. Es gibt viele freiwillige Helfer des Staates. Die sind vielleicht nicht immer bereit zu morden, aber bereit, Gewalt anzuwenden.“ Ich frage ihn, ob er nicht Angst habe. Ob zum kritischen Journalismus hier nicht eine große Portion Mut gehöre? „Ich mache meine Arbeit nach bestem Wissen und Gewissen“, entgegnet Kirill nüchtern. „Ich sehe darin nichts Heldenhaftes, nichts Mutiges. Ich arbeite ehrlich. Und wenn das manchen nicht gefällt – was soll ich machen? So ist das nun mal.“ Dabei stehe er als Kolumnist, so fügt er noch schnell hinzu, eh nur in der zweiten Reihe. Unliebsam ist vor allem, wer investigativ recherchiert, neue Fakten auf den Tisch bringt oder Korruption offenlegt.
Im Aus – die rote Linie
Als ich das geleakte Memo aus dem Inneren des wohl bekanntesten und bis dahin mächtigsten russischen Investigativmediums „RBC“ lese, verstehe ich, was Kirill damit meint. Unerlaubterweise haben die Redakteure ihr erstes Treffen mit der neu eingesetzten Führung aufgezeichnet. Das Memo liest sich wie ein Krimi. Es ist ein warmer Juliabend in Moskau. „Wenn Leute hier denken, dass man immer direkt sein kann“, sagt einer der Neuen, Igor Trosnikow, der von der staatlichen Agentur TASS hergekommen ist, unverblümt, „dann irren die sich.“ Das sei bei anderen Medien nicht erlaubt, und wie die Erfahrung jetzt zeige, „ist es auch hier nicht erlaubt. Richtig?“
„‚RBC‘ übertrat dieses Jahr wohl mehrmals die rote Linie“, erzählt mir Michail Komin, ein junger Kolumnist für „RBC“. Wo genau die liege, das wisse er nicht. Keiner wisse das. Der Bericht über Putins jüngste Tochter Katerina Tichonowa jedenfalls brachte das Fass zum Überlaufen. Köpfe auf der Chefetage rollten. Mit ihnen gingen aus Solidarität rund 20 Redakteure. Neue, staatstreuere Chefredakteure kamen. Mittlerweile ist auch die Chefredakteurin einer anderen großen Zeitung namens „Vedomosti“ gegangen. Offiziell, weil sie mehr mit ihren Kindern machen wolle. Doch für Journalisten sei das ein weiteres klares Zeichen, so Kirill von der „Nowaja“. Die rote Linie wurde wieder einmal enger gezogen.
Um die Pressefreiheit in Russland steht es damit laut Freedom House so schlecht wie noch nie: Im jüngsten Bericht räumte Russland dieses Jahr stolze 83 von möglichen 100 Punkten für „Unfrei“ ab. Vom kritischen Journalismus bleibt in Russland fast nichts mehr übrig.
Selbstzensur funktioniert meist ganz von alleine
In den Redaktionsräumen der „Nowaja“ merke ich von alldem wenig. Auf den ersten Blick ist es wie bei jeder anderen Zeitung. Fristen müssen eingehalten und freien Autoren und ihren Texten hinterhergerannt werden. Zensur? Sehe und höre ich nicht. Erst als ich explizit nachfrage, meine ich zu verstehen. Es läuft viel subtiler, erklärt mir Michail, denn auch die „Nowaja“ hatte einen Bericht über Putins Tochter veröffentlicht. Doch das Gesicht Putins prangte nicht dick und fett auf ihrer Titelseite. „Der Chefredakteur der ‚Nowaja‘ spürte die rote Linie da wohl besser als der ‚RBC‘.“
Selbstzensur also. Die funktioniert meist ganz von alleine. Den Weg dahin hat in Russland freilich die Politik über Jahre hinweg geebnet. Auch wenn die sich gerne aus der Affäre zieht und lieber den Westen der Zensur anklagt, wie vor zwei Wochen geschehen, als das Europaparlament einen Beschluss gegen dezidiert auch russische Propaganda fasste.
Die Zensur in Russland funktioniert meist indirekt: Kremlnahe Unternehmer kauften russische Medienimperien auf und sägten dann, wenn ihre Medien neue rote Linien übertraten, deren Chefredakteure ab. So geschehen bei der Medienholding „RBC“. Damit das funktioniert, erließ man ein Gesetz, das für ausländische Anteilseigner eine Obergrenze von 20 Prozent festschrieb. Das wiederum bringt unabhängige Medien in ernsthafte finanzielle Schwierigkeiten.
Wahlweise entzogen Kabelbetreiber kritischen Sendern wie Doschd auch einfach die TV-Lizenz. In den letzten fünf Jahren brachte man so die Stimmen von mindestens zwölf nichtstaatlichen Medien zum Schweigen. Was von diesen übrig bleibt, erreicht laut dem Meinungsforschungsinstitut Lewada nur noch 10 bis 15 Prozent der russischen Bevölkerung – wenn überhaupt. Nicht einmal die Kioskbesitzer verstehen sofort, was ich möchte, wenn ich um die „Nowaja Gaseta“, zu Deutsch die „Neue Zeitung“, bitte. Von gestern, entgegnet man mir dann, sei keine der Zeitungen.
Ein schrecklich apokalyptischer Unterton
Wie meine russischen Freunde lese ich deshalb vor allem im Internet. Neben der Onlineausgabe der „Nowaja“ auch junge Blogs oder unkonventionelle Onlineportale. Die schossen aufgrund der Repressalien wie Pilze aus dem Boden und wurden zu Stimmführern der Protestwelle 2011. Online ging offline und ließ den Kreml zittern. Doch mittlerweile weiß sich der Staat auch hier zu helfen. Blogger mit mehr als 3.000 täglichen Lesern müssen sich bei der Presseaufsicht registrieren. Seiten werden gesperrt.
Für die „Nowaja Gaseta“ sind die hauseigenen Hüter der Leserkommentarspalten deshalb überlebenswichtig geworden. Denn zwei falsche Leserkommentare und gesperrt wird die Seite. Letztes Jahr war es fast so weit, als man in einem Buchabdruck vulgäre Sprache verwendete. Das verstieß gegen das Gesetz gegen Schimpfwörter und hätte die Webseite der Zeitung fast offline gehen lassen.
Der Journalismus in Russland stecke in einer tiefen Krise, meint Kirill. Dabei gehe es gar nicht darum, oppositionell zu sein, erzählt der Redakteur, sondern schon „normaler, objektiver Journalismus scheint hier heute too much. Jede Ausgabe fühlt sich deshalb an wie die letzte.“ Und tatsächlich bekommt das Ganze, je öfter ich mit Journalisten spreche, einen schrecklich apokalyptischen Unterton. Einige ziehen weg, doch jeder unterzieht sich so oder so der Selbstzensur. Die ewige alte, einseitige Leier, ich weiß. Doch das macht es alles nicht weniger tragisch.