„Es gibt dir ein gutes patriotisches Gefühl, die Truppen aggressiv schreien zu sehen“, sagt Manpreet Singh Zoar. Mit acht fremden Menschen hat er im indischen Amritsar ein Sammeltaxi bestiegen. Für den besseren Platz vorne neben dem Fahrer musste er mehr zahlen. Der 32-jährige Singh kann es sich leisten, er lebt mittlerweile in Neuseeland, wo er im IT-Bereich arbeitet. Obwohl er in der Nähe von Amritsar, nur etwa 30 Kilometer von der Grenze zu Pakistan geboren wurde, war er noch nie an der indischen Grenze. Hinten auf den kleinen Bänken des Vans hocken ein paar Ausländer und Sikhs mit blauen Turbanen. Eine Stunde Fahrt durch staubige Straßen, karge Felder sausen an den Fenstern links und rechts vorbei. Jeden Tag fahren Dutzende Vans die Strecke, um Hunderte Menschen zur Grenze zu bringen.
Die beiden Nationen beäugen sich wie entfremdete Verwandte
Einen Kilometer vor der Landesgrenze dürfen die Autos nicht weiter. Händler versuchen, für den kurzen Fußweg ihren Rikschaservice zu verkaufen. Es gibt Essensstände, Souvenirs und Menschen, die gegen Geld mit Farbe indische Flaggen auf die Wangen der Ankommenden malen. Nur ein paar Meter weiter stehen die Soldaten mit ihren Gewehren. Oben das grüne Straßenschild: „1 km India – Pakistan Border“. Bedrohlich und aufregend zugleich wirkt diese Anzeige, ein beliebtes Fotomotiv eines jeden, der nach Wagah an die legendäre Grenze von Pakistan und Indien kommt.
Der Kaschmirkonflikt
Die Kaschmirregion im Grenzgebiet von Indien und Pakistan ist regelmäßig Auslöser für militärische Konflikte zwischen den beiden Ländern. Das Territorium wurde 1947 mit der Unabhängigkeit von der britischen Kolonialmacht und der anschließenden Aufspaltung in Indien und Pakistan geteilt. Bis dahin war Kaschmir ein Fürstentum in der Himalayaregion: Der dort lange regierende Anführer war ein hinduistischer Maharadscha, die Bevölkerung dagegen war größtenteils muslimischen Glaubens. Die beiden neu gegründeten Staaten Indien und Pakistan beanspruchen das Gebiet bis heute für sich. Deswegen hat Kaschmir einen Sonderstatus.
Noch heute ist die Mehrheit der Kaschmiris muslimischen Glaubens. Daher fordern viele Bewohner und Aufständische eine Angliederung an Pakistan.
Unterschiedliche Rebellengruppen kämpfen mittlerweile in beiden Landesteilen für die Aufrechterhaltung der Eigenständigkeit der Region. Pakistan und Indien haben um Kaschmir seit 1947 schon zwei Kriege gegeneinander geführt. International löst das Besorgnis aus, da die beiden Staaten Atommächte sind. Die UN haben mit diversen Resolutionen zur Waffenruhe aufgerufen, doch immer wieder finden Auseinandersetzungen statt.
Die beiden Nationen beäugen sich wie entfremdete Verwandte. Je mehr die Hasspropaganda zwischen den Regierungen der im Dauerclinch liegenden Nationen zunimmt, desto größer scheint das Interesse der Nachbarn, sich auch mal persönlich gegenüberzustehen.
Wie an einem Flughafen werden Männer und Frauen getrennt unter freiem Himmel mit Metalldetektoren gescannt. Von den Taschenkontrollen und Sicherheitsschleusen aus ist es nur noch ein kleines Stück und man ist auch schon im Zentrum des Geschehens – deutlich zu vernehmen an dem lauten Geschrei. Wie in einem Stadion sind die Straßenabschnitte hier sowohl auf der indischen als auch auf der pakistanischen Seite mit schräg nach oben verlaufenden Sitzreihen versehen. Aus den Lautsprechern tönen nationalistische Parolen. Die Menschen johlen, klatschen, durch die Reihen laufen Eisverkäufer. Die Lautsprecherstimme heizt die Zuschauer an, auf der pakistanischen Seite wedeln Fahnenträger ihre grünen Flaggen.
Als die ersten Soldaten auf beiden Seiten einmarschieren, sind die Massen nicht mehr zu halten. Es wirkt wie eine inszenierte Show mit Darstellern, doch es handelt sich um ein offizielles militärisches Manöver im Sperrgebiet. In Anbetracht der politisch angespannten Lage vollzieht sich hier täglich ein surreales Spektakel rund um die abendliche Schließung der Grenze zwischen Indien und Pakistan und das Flaggeneinholen auf beiden Seiten.
In fast synchronen Choreografien marschieren die Frauen und Männer auf den jeweiligen Seiten. Die Pakistaner in Schwarz, die Inder in Ocker und knalligem Rot, mit ihren Fächern auf dem Kopf sehen sie nicht aus wie Soldaten, sondern eher wie Dompteure im Zirkus. Einen Zweck erfüllen sie ganz sicher: Sie machen Eindruck. Die Soldaten reißen die Beine nach oben, richten die Hüte und strecken die Brust raus und reißen kämpferisch die Arme nach oben: „Hier trau dich nur her, du“, so sieht es aus.
Indien und Pakistan inszenieren sich hier als Erzfeinde. Doch sie sind keine gleichwertigen Kontrahenten
Indien und Pakistan inszenieren sich hier als Erzfeinde, wie zerstrittene Brüder. Doch sie sind keine gleichwertigen Kontrahenten: Pakistan ist mit fast 190 Millionen Einwohnern ein bevölkerungsstarkes Land, Indien steht dem aber mit 1,3 Milliarden gegenüber – als weltweit größte Demokratie.
Die Kolonialmacht Großbritannien hatte seit Mitte des 19. Jahrhunderts in dem südasiatischen Riesenland geherrscht, doch mit Mahatma Gandhi an der Spitze der gewaltlosen Befreiungsbewegung steuerte es Mitte des 20. Jahrhunderts in die Unabhängigkeit. Allerdings verstärkte die Neuverteilung der Macht historische Konflikte in dem Land, das auch schon vor der britischen Kolonialherrschaft sehr komplex war: eine Mischung von Sprachen, Kasten und vor allem Religionen – Hindus, Muslime, Sikhs, Christen, Buddhisten, Jains und Parsen und kleinere Naturreligionen. Besonders große Konflikte gab es zwischen Muslimen und Hindus.
Im Jahr 1946 entstand schließlich, noch unter britischer Herrschaft, der sogenannte Mountbatten-Plan, der die Teilung in zwei Staaten vorsah: ein hinduistisch dominiertes Indien und ein muslimisches Pakistan. Beide erlangten sie 1947 ihre Unabhängigkeit, doch die Aufspaltung des Landes war eine blutige. Mehr als eine Million Menschen starben, mehr als zehn Millionen Menschen mussten fliehen: Muslime aus Indien in das neu gegründete Pakistan, Hindus und Sikhs aus Pakistan nach Indien.
Dass Indien und Pakistan über Atomwaffen verfügen, beunruhigt den Rest der Welt
Seitdem schwelt der Konflikt an vielen Stellen und flammt immer wieder auf. So wie im Juli 2016, als indische Sicherheitskräfte einen islamistischen Rebellenführer töteten. In der Folge kam es zu Demonstrationen, bei denen mit Streumunition gegen die Protestierenden vorgegangen wurde – mehr als 65 Menschen wurden getötet, mehr als 2.000 Menschen verletzt. Im September 2016 ermordeten islamistische Extremisten bei einem Angriff auf einen indischen Militärstützpunkt im Kaschmir 17 Soldaten, Indiens Sicherheitskräfte töteten daraufhin die vier Angreifer. Der offiziell seit 2003 geltende Waffenstillstand wird also immer wieder verletzt. Dass Indien und Pakistan über Atomwaffen verfügen, beunruhigt den Rest der Welt.
„Als Menschen sind wir Freunde. Was man hier sieht, ist ein Schauspiel, es ist größtenteils Spaß“
Doch an der Grenze zwischen Attari und Wagah sehen das nicht alle so dramatisch: „Als Menschen sind wir Freunde. Was man hier sieht, ist ein Schauspiel, es ist größtenteils Spaß“, sagt General Sudeep, der auf der indischen Seite für die Zeremonie verantwortlich ist. „Wir sind eigentlich keine Feinde. Jedes Land hat halt seine Ziele und andere Strategien, damit umzugehen.“ Sudeep lacht: „Deutschland stand doch vor dem gleichen Problem, zwei Länder, in denen eigentlich ein Volk lebte.“ Durch Indien und Pakistan gehen jedoch tiefere Risse: Sie sind nicht nur politischer, sondern auch religiöser Art.
Indiens Ministerpräsident und Regierungsoberhaupt Narendra Modi schürt oft die Stimmung gegen Pakistan und setzt auf stark hindunationalistische Töne. Pakistan wird von ihm bezichtigt, ein Hort von islamistischen Terroristen zu sein. Derweil prangern Pakistans Premier Nawaz Sharif und seine Sicherheitsberater an, dass Indien im pakistanischen Teil Kaschmirs Menschenrechtsverletzungen wie Folter, Entführungen und außergerichtliche Tötungen begehe und Pakistan destabilisiere. Selbst in Bollywood, der großen indischen Filmindustrie, wird der Clinch der beiden Staaten ausgetragen: Als der Kaschmirkonflikt im vergangenen Oktober wieder ausbrach, mussten in Indien arbeitende pakistanische Schauspieler ihren Hut nehmen. Einige indische Schauspieler und Regisseure kritisierten die Willkür, doch die Politik war stärker. Pakistan sagte im Gegenzug alle Vorführungen indischer Filme ab.
„Deutschland stand doch vor dem gleichen Problem, zwei Länder, in denen eigentlich ein Volk lebte“
Inmitten dieser politisch schwierigen Lage versuchen sich Teile der jungen Generation an einem neuen Kurs. Gruppen wie United Youth of India-Pakistan setzen sich mit gemeinsamen Kulturevents und Kampagnen in sozialen Netzwerken für den Zusammenhalt der jungen Generation beider Länder ein. Auf der beliebten indischen Online-Plattform Youth Ki Awaaz schreibt eine pakistanische Studentin, dass sie beim Austausch mit Indern während ihres Auslandsstudiums gemerkt hätte, Inder und Pakistaner „seien wie zwei Seiten einer Münze“.
In Wagah an der Grenze kann man zwar junge Inder dabei beobachten, wie sie während der Zeremonie überschwänglich die indische Nationalhymne mitsingen, sich indische Flaggen auf die Wangen malen lassen und mit den Soldaten der indischen Streitkräfte posieren. Doch auf Nachfrage lassen auch sie sehr viel versöhnlichere Töne anklingen. „Eigentlich sind wir ja eins“, sagt ein junger Besucher.
Auch der Wahl-Neuseeländer Manpreet Singh Zoar sagt: „Wir haben eine Art Konkurrenzsituation mit Pakistan, politisch und militärisch, auch im Sport – aber unsere Kultur ist doch dieselbe.“ Wenn er in Neuseeland mit seinen pakistanischen Kumpels zusammensitze, dann teilten sie die gleichen Traditionen.
Titelbild: Gaillard/Le Figaro Magazine/laif