In Frankreich haben wir gerade gesehen, wie bei der Präsidentschaftswahl ein jahrzehntelang etabliertes Parteiensystem umgewälzt worden ist – wie hat Emmanuel Macron das geschafft?
Macron hatte ein Momentum, das er geschickt zu nutzen wusste. Der Zeitpunkt für eine solche Erneuerung war günstig, und das hat mit einigen Faktoren zu tun. Zum einen mit den Parteien selbst: Der Kandidat der Sozialisten war schwach und seine Partei gespalten, die Konservativen waren in Skandale verwickelt. Ohne diese Skandale wäre Macron jetzt vielleicht nicht Präsident. Es klingt paradox, aber die Stärke von Marine Le Pen und ihrem rechtskonservativen Front National hat auch Macron zur Wahl verholfen: Viele Wähler/-innen wollten vermeiden, dass sie an die Macht kommt, und Macron hat sich als ihr Gegenbild positioniert. Zum anderen ist es auch so, dass es in Frankreich seit Jahren oder sogar seit Jahrzehnten starke Kritik an der Elite und am System gibt. Die Parteien haben seit Jahren Schwierigkeiten, die Bedürfnisse der Menschen zu erfüllen. Und da kommt jemand, der diese Systemkritik für sich entdeckt! Macron hat das ja sehr stark thematisiert, insbesondere diese traditionelle Links-Rechts-Spaltung, die stellte er infrage. Es sind also verschiedene Faktoren, die zusammen erklären, wieso er die Wahl gewinnen konnte.
„Jetzt ist es noch zu früh, um zu sagen, was mit den etablierten Parteien von gestern passieren wird“
Seit Macrons Wahlsieg hat man das Gefühl, die übrigen Parteien gebe es kaum noch. Wie sieht die Landschaft heute aus?
Es ist eine Landschaft im Umbruch. Jetzt ist es noch zu früh, um zu sagen, was mit den etablierten Parteien von gestern passieren wird. Ich finde es aber frappierend, dass die zwei Kandidaten, die für die Parti Socialiste, also die Sozialdemokraten, in der Vorwahl angetreten sind, beide nicht mehr in der Partei sind. Die Sozialisten haben keine Führung, keine Orientierung. Diese Verunsicherung gilt auch für die Républicains, die Konservativen, die in der Programmatik zurzeit sehr unsicher sind. Sie unterstützen in Teilen die Politik der Regierung, aber sie sind in der Opposition und wissen nicht, woraus sie nun Kapital schlagen können, aus welchen Themen. Und das gilt sogar für den Front National, wer hätte das gedacht, der in einer Krise steckt! Es ist alles im Umbruch, und es wird spannend zu sehen, ob die traditionelle Trennlinie zwischen Links und Rechts bestehen bleibt. Und was mit der neuen Trennlinie zwischen Verlierern und Gewinnern einer offenen, globalisierten Welt geschieht.
Wogegen richtet sich denn die von Ihnen erwähnte Systemkritik – was stößt den Franzosen so sauer auf?
Erstens haben viele Menschen den Eindruck, dass Frankreichs Probleme nicht gelöst werden. Probleme, die seit Jahren diskutiert werden, in erster Linie die Arbeitslosigkeit und die zu schwache Kaufkraft. Das sind Themen, die immer wieder auftauchen, aber die Situation verbessert sich nicht wirklich. Viele Bürger fühlen sich also von ihrer politischen Klasse nicht ernst genommen, sondern im Stich gelassen. Zweitens hat Frankreich ein strukturelles Problem mit der Volksvertretung. Im Gegensatz zu Deutschland befindet sich die politische und wirtschaftliche Elite des Landes in der Hauptstadt, in Paris. Ihre Vertreter kennen sich untereinander, und sie sind ziemlich weit weg von der Realität der kleineren Städte und der Dörfer. Das Misstrauen gegenüber der Politik, aber auch gegenüber anderen Formen der Interessenvertretung wie Gewerkschaften ist in Frankreich extrem hoch, höher als in den meisten anderen europäischen Ländern. Und dies führt zu einer Form von Politikverdrossenheit. Viele Erstwähler und junge Leute gehen nicht zur Wahl. Und wenn sie wählen, dann entscheiden sie sich für radikale Parteien – entweder für den Front National oder die Bewegung von Jean-Luc Mélenchon, La France insoumise (deutsch etwa: Das unbeugsame Frankreich).
Aber ist nicht Enthaltung die schlechteste Wahl, gerade wenn Probleme bestehen?
Auch Protest ist eine Form der Politik, und diese Form ist in Frankreich besonders stark vertreten. Vergangenes Jahr ist in Frankreich die Bewegung der Nuit debout (deutsch: Aufrecht durch die Nacht) entstanden, eine soziale Bewegung, die sich aus Elitekritik und einer Ablehnung von Hollandes Arbeitsmarktreform speist. Wenn man sich Nuit debout anschaut, sieht man Leute, die durchaus Politik machen wollen – und zwar, indem sie sich über Politik austauschen. Sie führen sehr lange, sehr tiefe kontroverse Diskussionen, bloß die meisten von ihnen wollen keine Politik im klassischen Sinn machen, das heißt gewählt werden. Das ist nun die Frage: Inwiefern können sie etwas bewegen, können sie die Gesellschaft verändern, wenn sie nur diskutieren, dabei aber keine aktiven Akteure werden?
„Allerdings finde ich es frappierend, dass der Wunsch nach Stabilität in Deutschland deutlich größer ist als der Wunsch nach Erneuerung“
Sie leben seit acht Jahren in Deutschland. Nehmen Sie hierzulande eine Politikverdrossenheit wahr?
In Deutschland ist die Parteienlandschaft ohnehin viel stabiler als in Frankreich, auch wenn sie sich langsam verändert. Allerdings finde ich es frappierend, dass der Wunsch nach Stabilität in Deutschland deutlich größer ist als der Wunsch nach Erneuerung. Es gibt in Deutschland keinen revolutionären Geist, das weiß jeder, aber es gibt auch keinen wirklichen Drang nach Veränderungen. Das liegt nicht nur an der politischen Kultur, also auch an der Vergangenheit, sondern auch an der Struktur der Bevölkerung. Die französische Bevölkerung ist jünger und stärker von Arbeitslosigkeit betroffen – auch deshalb ist es in Deutschland viel schwieriger, das Parteiensystem herauszufordern, wie es Macron getan hat.
Was bedeutet es für Frankreich, dass es nun so einen jungen Staatschef hat?
Mein Eindruck ist, dass sich die Einstellung verändert hat. Wenn es um Probleme geht, zum Beispiel um die Reform des Arbeitsmarkts oder des Rentensystems, zwei Themen auf der politischen Agenda, dann denkt man langfristiger. Das heißt immer mit dieser Frage im Hinterkopf: Was bedeutet das für die Zukunft? Was sind die Voraussetzungen für eine gute Zukunft, auch und insbesondere für die jungen Menschen? Außerdem ist diese Regierung viel eher bereit, Risiken einzugehen, Traditionen infrage zu stellen. Vor allem aber: umzudenken. Das sieht man am Arbeitsgesetz, das Macron und der Premierminister lockern wollen: Trotz Protest setzen sie sich durch. Allerdings darf man nicht vergessen, dass der neue Präsident nicht nur jung ist, sondern auch aus einer bestimmten Schicht kommt. Viele seiner Wähler und Wählerinnen kommen aus der oberen Gesellschaftsschicht, sie sind gebildet und haben oft im Ausland Erfahrungen gesammelt. Macron und sein Team sprechen also nicht für alle, und schon gar nicht für alle jungen Leute. Ein großer Teil von ihnen fühlt sich abgehängt, hat weder Arbeit noch Perspektive und gehört zu den größten Pessimisten der Gesellschaft.
Was müsste Macron tun, um diese jungen Leute zu erreichen?
Er müsste greifbare Ergebnisse liefern. Viele junge Leute sind unzufrieden, weil sie keinen Job haben und weil sie oft in prekären Verhältnissen leben. Sie fühlen sich verunsichert, nicht ausreichend geschützt. Deshalb spielt die Reform des Arbeitsmarktes, die Macron Ende August vorgestellt hat, eine große Rolle. Wenn sich die konkrete Situation nicht ändert, etwa durch mehr und bessere Arbeitsplätze, wird es schwierig sein, diese Unzufriedenheit zu verändern. Fakten sind wichtig, aber auch der Diskurs und das Auftreten des Staatschefs. In Frankreich hat der Präsident eine Rolle als „Vater der Nation“, das heißt, er soll erklären, Spannungen abbauen, den Zusammenhalt des Landes fördern. Dafür muss er die richtigen Worte finden, zum Beispiel in Bezug auf Europa oder die Globalisierung, denn es sind Themen, die in Teilen der Bevölkerung mit Angst verknüpft sind.
Zumindest in den sozialen Medien ist Macron sehr präsent für die jüngeren Leute, er postet Videos und twittert – welche Rolle spielt diese Kommunikation?
Macron beherrscht in der Tat die neuen Kommunikationsmethoden, und ich denke, dass das wichtig ist. Nicht nur, um junge Menschen zu erreichen, sondern auch, um eine gewisse Professionalität auszustrahlen. Das gilt für die sozialen Medien, aber auch für die Art und Weise, in der Macron mit Journalisten umgeht. Dabei macht er einen klaren Unterschied zwischen der Phase im Wahlkampf, in der er sehr offen war für Begegnungen mit der Presse, und der Phase des Regierens, die im Gegenteil von großer Zurückhaltung geprägt ist. Als Präsident scheint es ihm extrem wichtig zu sein, seine Kommunikation und die seines Teams unter totaler Kontrolle zu haben. Man merkt, dass Kommunikation bei ihm nicht nur ein Mittel ist, um Politik zu vermitteln, sondern im Mittelpunkt seines Regierens steht.
„Wenn man sich derzeit die Plakate zur Bundestagswahl anguckt, hat man das Gefühl, die Parteien machen es sich viel zu leicht“
Im Wahlkampf haben sich viele Menschen überhaupt erstmals engagiert, etwa indem sie Plakate geklebt haben. Was können wir daraus in Deutschland lernen?
Es gibt kein Rezept, wie so etwas in Gang kommt. Im zentralistischen Frankreich wirken nicht die gleichen Methoden wie in einem föderalen Staat wie Deutschland, die Traditionen sind andere. Trotzdem gibt es einige Grundregeln. Erstens sollen die Parteien ernsthaft auf die Probleme der Menschen eingehen und sie thematisieren. Wenn man sich derzeit die Plakate zur Bundestagswahl anguckt, hat man das Gefühl, die Parteien machen es sich viel zu leicht. Heute habe ich gelesen: „Familien sollen es kinderleichter haben“ – ja natürlich, dafür ist jeder. Vielleicht kann man mit solchen Wohlfühlslogans eine Wahl gewinnen, aber es trägt auch zur Politikverdrossenheit bei. Und zweitens denke ich, dass die Parteien und die Politiker den Mut haben sollten, auch Dinge zu sagen, die nicht unbedingt konsensfähig sind. In Frankreich war die Stimmung während des Wahlkampfes sehr kritisch gegenüber Brüssel, gegenüber der Europäischen Union. Nicht europakritisch, aber EU-kritisch. Und trotzdem hat Macron Wahlkampf mit dem Thema Europa gemacht und am Ende gewonnen. Statt bloß das zu sagen, was vermeintlich die Erwartung der Wähler trifft, ist es überzeugender, eine eigene Meinung zu haben.
Könnte ein junger, dynamischer Kandidat wie Macron auch hier für einen politischen Umbruch sorgen?
Das Parteiensystem in Deutschland ist viel stabiler als das französische, und der Wunsch nach Stabilität ist viel größer. Trotzdem könnte sich vielleicht etwas ändern, auch in Deutschland, wenn eine charismatische Person daherkäme. Schwieriger jedoch als in Frankreich. Dort geht es bei der Präsidentschaftswahl um eine Person, nicht um Abgeordnete. „C’est la rencontre entre un peuple et un homme“, heißt es bei uns – es ist die Begegnung eines Volkes mit einem Menschen. In Deutschland ist das weniger der Fall, weil der Bundeskanzler oder die Bundeskanzlerin nicht direkt gewählt wird. Außerdem: Mit charismatischen Personen hat man hier keine guten Erfahrungen gemacht.
Titelbild: Lydie LECARPENTIER/REA/laif