2 Stunden und 52 Minuten Zugfahrt trennen die mit rund 400.000 Einwohnern bevölkerungsstärkste Schweizer Stadt Zürich vom 248-Seelendorf Albinen im Oberwallis – und damit Welten. In Zürich regnete es an diesem Dezembermorgen noch Schneematsch. In Albinen, 1300 Meter über dem Meer, schneit der Himmel runter, was er kann. Die engen Gässchen des historischen Ortskerns sind menschenleer, ungehindert kann die Schneedecke in wenigen Stunden einen halben Meter anschwellen. In derselben Nacht sollten im Tal unten 200 gestrandete Zugpassagiere in einer Schule übernachten müssen, weil selbst das gut geölte Schweizer Bahn- und Tourismuswesen gegen solche Schneemassen nicht ankam.
Viel Blödsinn wurde über die Albiner Volksinitiative geschrieben, die junge Familien ins überalternde Dorf locken will
In Albinen oben freut man sich über den Schnee, sogar von weißer Weihnacht wagt man auf der Busfahrt über gefährlich ungeräumte Straßen zu träumen. Die Journalisten, die es in den vergangenen Wochen ins Dorf geweht hat, werden zuerst einmal skeptisch beäugt. Viel Blödsinn wurde über die Albiner Volksinitiative geschrieben, die junge Familien ins überalternde Dorf locken will. Eine schneeballartige Verbreitung verknappter Schlagzeilen trug die Sage in die halbe Welt, dass die Gemeinde einer vierköpfigen Familie 70.000 Schweizer Franken, umgerechnet aktuell knapp 60.000 Euro, schenke.
Dabei ging meist unter, dass es strenge Bedingungen für diesen Geldsegen gibt: Unter anderem muss man für die kommenden 10 Jahre seinen Erstwohnsitz in die Gemeinde verlegen, 200.000 Franken in Wohnraum investieren, unter 45 Jahre alt sein und Schweizer oder Ausländer mit Aufenthaltsrecht sein. Nur dann bezahlt die Gemeinde pro Erwachsenem 25.000 und pro Kind 10.000 Franken. Das sei nicht nur Wohnbauförderung, sondern vor allem Familienförderung, betonen die Befürworter an diesem Nachmittag im Bergdorf immer wieder. Denn soll „dieses Paradies“, wie sie das Dorf mitunter nennen, eine längerfristige Zukunft haben, braucht es neue Einwohner. Jüngere Einwohner.
Severin Hermann und Amina Clénin wollen bleiben
Ihnen sollen die Fördergelder den Schritt erleichtern, sich in Albinen niederzulassen. Viele Junge haben noch nicht genug Eigenmittel angespart, um selbst in Wohneigentum zu investieren. Auch Severin Hermann und Amina Clénin nicht. Er ist 25, in Albinen aufgewachsen und Teil der Gruppe von jungen Erwachsenen, die die Wohnbau- und Familienförderungs-Initiative lanciert haben. Sie, 26, kommt aus dem Berner Seeland, etwa drei Autostunden nördlich von Albinen. Die beiden Umweltingenieure haben sich während des Studiums am Zürichsee ineinander verliebt. Im Oktober ist sie zu ihm nach Albinen gezogen, wo sie mit offenen Armen willkommen geheißen wurde, erzählen sie. Beruflich stehen beide noch am Anfang. Er hat zusammen mit seinem Initiativgruppen-Kollegen Fabio Kuonen gerade eine Heilkräuter-Produktelinie lanciert, sie arbeitet jetzt erst mal eine Saison bei der regionalen Skischule. Langfristig wollen sie etwas Eigenes im Bereich nachhaltige Entwicklung und sanfter Tourismus aufbauen. Dafür biete Albinen viel Potenzial. Hermann und Clénin mieten zurzeit ein altes Haus mitten im Dorfkern. Doch für sie ist denkbar, dass sie vielleicht schon in wenigen Jahren von den Fördergeldern Gebrauch machen könnten. Für die beiden ist auf jeden Fall klar, dass sie hier bleiben möchten.
Deswegen waren sie ziemlich erleichtert, als die Gemeindeversammlung die Initiative Ende November mit großer Mehrheit angenommen hatte. Denn das Geschäft war nicht etwa unumstritten. Am Ende waren die Gegner leiser als die Befürworter, fast stumm. Auch an diesem verschneiten Tag im Dezember sprechen sie im Dorf nur widerwillig mit der Presse und wollen schon gar nicht namentlich zitiert werden. Einige finden es unfair, dass von der Unterstützung nur die Jungen profitieren und alle über 45 außen vor gelassen würden. Das sende ein falsches Zeichen, zumal nächstes Jahr über die Hälfte der Einwohner das Pensionsalter erreicht haben sollen. Man müsse doch denen Sorge tragen, die schon hier sind und nicht Leute überreden wollen, hierher zu kommen. „Entweder es gefällt einem, hier zu leben, oder dann eben nicht“, sagt einer. Da sollte Geld keine Rolle spielen – oder zumindest allen gleichwertig zur Verfügung stehen. Einige Befürworter vermuten in der Ablehnung der Gegner auch einfach die Angst vor dem Fremden, das Albinen nun plötzlich zu überrollen droht. Die wird noch davon befeuert, dass seit den irreführenden Medienberichten immer wieder mal jemand aus dem Ausland im einzigen Laden des Dorfs steht und sich nach den Fördergeldern erkundigt, dabei aber von den Bedingungen keine Ahnung hat und einfach nur ein bisschen Geld abstauben will, weil die internationalen Medien ihre Schlagzeilen zu stark zugespitzt haben.
„Ich glaube, sie stellen sich das mit dieser Förderung zu einfach vor“
Andere Gegner teilen die Sorge der Initianten um die Zukunft des Dorfes. Etwa Niklaus Mathieu, der 40 Jahre lang die mittlerweile geschlossene Poststelle in Albinen leitete, wie vor ihm schon sein Vater und Großvater. Etwas müsse schon getan werden, um der anhaltenden Abwanderung der Jungen entgegenzuwirken. „Aber ich glaube, sie stellen sich das mit dieser Förderung zu einfach vor“, sagt er.
Gemeindepräsident Beat Jost, Sozialdemokrat und selbst ein der Liebe wegen Zugewanderter, sieht das anders. Unter dem Stern der Landflucht dürfe man als Gemeinde nicht mit dem Rücken zur Wand erstarren. Frische Ideen wie diese Initiative seien gefragt – und würden hier auch gehört. Ginge Albinen den Weg der Gemeindefusion, wie es viele Schweizer Bergdörfer in den vergangenen Jahren taten, wäre das nicht mehr möglich, gibt er zu bedenken. Rund 6000 Anfragen für die Förderungsgelder sind bei der Gemeinde bereits eingegangen, sagt Jost. Die meisten erfüllen die Förderungskriterien nicht, nur etwa ein Prozent davon könne man überhaupt in Betracht ziehen. Noch viel weniger werden es sein, auf welche die Gemeinde letztlich aktiv zugehen wird. Doch wenn man nur fünf bis zehn neue Familien gewinnen könne, sei das schon als grosser Erfolg zu werten.
Die sieben schulpflichtigen Kinder besuchen in den Nachbargemeinden den Unterricht
Darüber hinaus liegt der Gemeinde bereits ein bewilligtes Bauprojekt eines Einheimischen vor, das für die Förderbeträge infrage käme – wenn sich Käufer dafür finden. Es müssten Käufer sein, die ihren Kindern lange Wege zumuten mögen. Denn eine Schule gibt es seit 2009 nicht mehr im Dorf. Die sieben schulpflichtigen Kinder besuchen den Unterricht in den Nachbargemeinden. Die Förderungsgelder sollen, wenn es nach Jost geht, genug Familien anziehen, dass irgendwann die eigene Schule wieder eröffnet werden kann. Schon zehn zusätzliche Kinder würden dafür reichen. Die Hoffnung ist, dass danach noch mehr kommen. Denn das Fehlen der Schule – und aller anderen Angebote für Kinder und Familien, die sich erst ab einer gewissen Anzahl lohnen – sei der „gravierendste Minuspunkt“ Albinens auf der Suche nach jüngeren Zuzüglern.
Bildung, Arbeitsplätze, die damit verbundenen Pendelzeiten: Das sind die größten Stolpersteine auf Albinens Weg in die Zukunft. Darüber, wie sich das kleine Dorf zwischen den umliegenden Städten, zum Beispiel dem 40 Minuten entfernten Sitten, behaupten kann, gehen die Meinungen auseinander. Doch dass man der Abwanderung nicht tatenlos zusehen will, darüber sind sich eigentlich alle einig. Zu schön sei es einfach, das Leben im Dorf, hört man in irgendeiner Version immer als Fazit. Die nahen Wiesen, Wälder und Wege, die gute Luft, die Hilfsbereitschaft untereinander, das intakte Vereinsleben: Das alles wollen die heutigen Bewohner noch lange erleben können – und es auch für künftige Generationen erhalten.
Titelbild: Cyril Zingaro/picture-alliance/dpa