fluter.de: Es gilt als sehr wahrscheinlich, dass die russische Regierung bei der letzten US-Wahl ihre Finger mit im Spiel hatte: eine Verschwörung, könnte man sagen. Was ist der Unterschied zu den Verschwörungstheorien, über die Sie in Ihrem Buch „Nichts ist, wie es scheint“ schreiben?
Michael Butter: Reale Verschwörungen gab es immer und wird es immer geben. Aber die haben eine viel kleinere Reichweite, und viel weniger Leute sind daran beteiligt. Bei den großen Verschwörungstheorien geht man immer von sehr vielen Mitwissern aus. Etwa die Theorie, dass 9/11 von der US-Regierung bewusst herbeigeführt wurde. Wenn das hätte stimmen sollen, dann wären dafür Hunderte von Leuten notwendig gewesen, die – zumindest unwissentlich – mitgemacht hätten. Bei der russischen Einflussnahme auf die amerikanischen Wahlen hingegen reicht ein Dutzend Leute in einer Trollfabrik. Mehr Eingeweihte braucht es nicht. Reale Verschwörungen drehen sich um kleinere Ereignisse wie Staatsstreiche oder Wahlen. Verschwörungstheorien entwickeln oft ganze Geschichts- und Gesellschaftstheorien. Die gesamte Geschichte erscheint dann als bewusst geplanter Ablauf von Verschwörungen durch eine im Geheimen operierende Gruppe, die schon seit längerer Zeit die Strippen zieht.
„Verschwörungstheorien ziehen tatsächlich Verbindungen zwischen Ereignissen, die nichts miteinander zu tun haben”
An welchen anderen Merkmalen kann man Verschwörungstheorien erkennen?
Drei Elemente finden sich meistens. Erstens: Alles wurde geplant, nichts geschieht durch Zufall. Zweitens: Nichts ist so, wie es scheint – man müsse angeblich hinter die Kulissen blicken. Und wenn man das macht, stellt man fest, dass drittens sehr viel miteinander verbunden ist.
Dann sieht man in der Raute, die Beyoncé beim Super Bowl 2013 mit ihren Händen geformt hat und die ja Angela Merkels Markenzeichen ist, eine Pyramide: das angebliche Erkennungszeichen der Illuminaten.
Ja, das sind skurrile und durchaus unterhaltsame Fälle. Verschwörungstheorien ziehen tatsächlich Verbindungen zwischen Ereignissen, die nichts miteinander zu tun haben. Wenn Sie etwa an die Theorie des großen Austausches glauben, also davon überzeugt sind, dass Deutschland und Europa islamisiert werden sollen, dann sehen Sie die Einführung des Euro, das Schengener Abkommen, die Emanzipation der Frau, den Irakkrieg, die Syrienkrise und den Flüchtlingsstrom aus Nordafrika als Bausteine dieser großen Verschwörung.
Jeder elfte Befragte glaubte einer Umfrage der Uni Mainz aus dem Jahr 2016 zufolge daran, dass die angeblich „unkontrollierte Flüchtlingszuwanderung eine Strategie ist, das deutsche Volk abzuschaffen“. Welche Verschwörungstheorie ist denn im Moment am prominentesten oder gefährlichsten?
„In populistischen Bewegungen können Verschwörungstheoretiker und Nichtverschwörungstheoretiker wunderbar in einen Dialog treten”
Ich denke, es ist diese Theorie vom großen Austausch. Wer die Strippenzieher sind, wird unterschiedlich beantwortet: mal ein Komplott internationaler Finanzeliten, mal die NATO oder die US-Regierung. An erster Stelle steht bei dieser Theorie, dass die Flüchtlingsbewegung bewusst inszeniert wurde, um die Leute nach Europa zu bringen. Andere Maßnahmen seien schon vor langer Zeit getroffen worden: etwa die Abschaffung der Grenzen innerhalb Europas durch das Schengener Abkommen. Was diese Verschwörungstheorie so gefährlich macht, ist ihre Verbindung mit den populistischen Bewegungen.
Warum passen die so gut zusammen?
Beide behaupten, dass eine Elite sich gegen das Volk verschworen habe und seine wahren Interessen nicht vertrete. Sie reduzieren das politische Feld auf nur wenige Beteiligte: Für den Populismus sind das „die Elite“ und „das Volk“; für Verschwörungstheorien „die Verschwörer“ und „die Opfer der Verschwörung“. Die Angehörigen „der Elite“ sind für Verschwörungstheoretiker nicht individuell korrupt, sondern sie sind Teil eines großen Komplotts. Sie dienen eigentlich anderen Mächten und handeln deshalb gegen die Interessen des Volkes. In populistischen Bewegungen können Verschwörungstheoretiker und Nichtverschwörungstheoretiker wunderbar in einen Dialog treten. Beide können auf der Straße dieselben Slogans gegen Merkel rufen, obwohl sie ihr ganz unterschiedliche Dinge vorwerfen.
Kann man sagen, wer besonders anfällig für Verschwörungstheorien ist?
In allen Bevölkerungsschichten, Einkommensklassen, bei Männern und Frauen finden sich Anhänger. Aber es gibt Tendenzen: Der Teil der Bevölkerung, der auch die großen populistischen Bewegungen der Gegenwart trägt, ist auch besonders empfänglich für Verschwörungstheorien. Weiße Männer über 40, könnte man zugespitzt sagen. Diese Gruppe glaubt tendenziell am ehesten, unter den strukturellen Transformationen der letzten Jahrzehnte am stärksten zu leiden. Sie fühlt sich eher marginalisiert und findet, dass ihr Land sich in einer Art verändert, die ihr nicht geheuer ist. Verschwörungstheorien erklären dieser Gruppe das alles und geben ihr eine Möglichkeit, dieser Situation Herr zu werden und sie umzukehren.
Sie sagen, dass Verschwörungstheorien früher Teil des ganz normalen Wissens waren, das auch von „Eliten“ verbreitet wurde. Erst in den letzten 70 Jahren habe sich das geändert.
Denken Sie an die NS-Zeit! Die Vorstellung von der jüdischen Weltverschwörung war offizielle Staatsideologie und hat mit zum Holocaust beigetragen. In den USA herrschte noch in den 1950er-Jahren ein breiter Konsens darüber, dass es eine groß angelegte kommunistische Unterwanderung der USA gebe. Dass kommunistische Verschwörer, gelenkt aus Moskau, dabei wären, die Schulen, Ministerien und Unis zu unterwandern und die amerikanischen Familien zu zerstören. Das dachten Linke und Rechte gleichermaßen. In der Zeit war es absolut normal, daran zu glauben.
„Wenn du dich in einer bestimmten Filterblase bewegst, kannst du eine komplett andere Weltsicht bekommen”
Verschwörungstheoretiker leben also gedanklich in einem anderen Jahrhundert?
Verschwörungstheoretisches Wissen wurde seit circa 1950 aus der öffentlichen Debatte ausgeschlossen und in kleine Subkulturen verdrängt. Heute ist die Öffentlichkeit aber fragmentierter, was viel mit dem Internet zu tun hat. In bestimmten Teilöffentlichkeiten werden Verschwörungstheorien wieder zu normalem Wissen erhoben. Wenn du dich in einer bestimmten Filterblase bewegst, kannst du eine komplett andere Weltsicht bekommen. Dann wirst du vielleicht nur noch mit dem traditionellen Welt- und Geschichtsbild der Verschwörungstheoretiker konfrontiert.
Wieso sind Verschwörungstheorien jetzt wieder verbreiteter?
Sie gehen davon aus, dass Menschen in der Lage sind, ihre Intentionen eins zu eins in die Tat umzusetzen. Und das auch noch über einen langen Zeitraum. Das widerspricht den Erkenntnissen der Sozialwissenschaft der letzten Jahrzehnte komplett. Die Gesellschaft ist so komplex, dass einzelne Gruppen gar nicht in der Lage sein können, diese großen Verschwörungen über einen längeren Zeitraum durchzusetzen. Insofern kann man sagen, dass Verschwörungstheorien ein romantisches, naives Menschenbild propagieren. Das passt eher ins 18. als ins 21. Jahrhundert.
Illustration: Enrico Nagel