Der Himmelstempel in Peking gehört zu den bedeutendsten Sehenswürdigkeiten des alten Chinas, hier beteten die Kaiser der Ming- und der Qing-Dynastie für eine gute Ernte. Der Komplex, der jedes Jahr von Millionen Menschen besucht wird, ist aus dem frühen 15. Jahrhundert, aber auf der Besuchertoilette in der Parkanlage erwartet einen das moderne China: Das Toilettenpapier gibt es im kaiserlichen Himmelstempel nur noch via Gesichtserkennung. Direkt neben den Waschbecken hängt an der Wand ein kleiner dunkler Metallkasten mit eingebauter Kamera. Sekundenschnell wird das Gesicht gescannt und überprüft. Bei positiver Auswertung erhält man tatsächlich ein paar Blatt Papier. Kommt das Hightechgerät hingegen zu einem negativen Bescheid, etwa wenn man innerhalb von neun Minuten ein zweites Mal Toilettenpapier haben möchte, geht man leer aus.
Die Behörden versichern, dass es sich keineswegs um Schikane handle, sondern vielmehr um eine intelligente Form der Verbrechensbekämpfung. Die Kameras würden gegen Klopapierdiebe eingesetzt, von denen der Himmelstempel seit Jahren heimgesucht werde. So mancher Rentner habe auf seinen Beutezügen immerhin bis zu zehn Meter Papier auf einmal mitgenommen. Moderne Technik soll diesem Treiben ein Ende setzen.
Immer schön lächeln: für die Kameras im Klassenzimmer
Bis 2030 soll China eine Weltmacht in Sachen künstlicher Intelligenz (KI) werden, so der Plan des chinesischen Staatsrats. Auf diesem Weg ist man schon weit vorangeschritten. Im „Research Asia“-Zentrum von Microsoft werden Wissenschaftler und Ingenieure ausgebildet. Führende chinesische Unternehmen wie Baidu, Alibaba oder Tencent (Chinas Google, Amazon und Facebook) haben ihr Führungspersonal aus diesem Pool ausgewählt. Und sie alle investieren schier abenteuerliche Summen in Hardware, Forschung und Personal.
Die Schüler hätten sich ohnehin schon daran gewöhnt, meint der Direktor
In Chinas Schulen ist KI längst angekommen. Eindrucksvoll kann man das im Gymnasium Nr. 11 der ostchinesischen Metropole Hangzhou erleben. Hier erfassen in den Klassenzimmern Kameras alle 30 Sekunden die Gesichtsausdrücke der einzelnen Schüler. Mithilfe einer Gesichtserkennungssoftware und des passenden Algorithmus wird festgestellt, ob die Schüler glücklich oder traurig, verärgert oder verängstigt, aufmerksam oder abgelenkt sind.
Fällt die Aufmerksamkeit eines Schülers unter einen bestimmten Wert, kann der Lehrer entsprechend eingreifen. Der Leiter des Gymnasiums will das Projekt keinesfalls als Überwachungsmaßnahme der Schüler verstanden wissen. Es gehe vielmehr um die Lehrer, die durch die Informationen ihren Unterricht verbessern sollen. Die Schüler hätten sich ohnehin schon daran gewöhnt, meint der Direktor.
In China sind derzeit rund 800 Millionen Menschen online, sie nutzen Programme wie WeChat, Baidu, Renren oder Wei-bo – Chinas WhatsApp, Google, Facebook oder Twitter – und hinterlassen jedes Mal neue Daten, die alle gesammelt werden: von persönlichen Angaben, Vorlieben und Hobbys über Kauf- und Essgewohnheiten bis hin zu Angaben zu Freunden, Bekannten und Arbeitskollegen. Dazu kommt die Erfassung biometrischer Daten, zum Beispiel durch die sich rasch verbreitende Gesichtserkennung.
Geht man in der Millionenstadt Hangzhou bei der Imbisskette Kentucky Fried Chicken essen, muss man zum Bezahlen weder seine Geldbörse noch sein Smartphone zücken. Nach der Bestellung scannt eine 3-D-Kamera das Gesicht des Kunden, der dann noch seine Handynummer eingibt. Der Vorgang dauert kaum mehr als ein paar Sekunden. Entwickelt wurde das Projekt „Smile to Pay“ von Ant Financial, einer Tochter des chinesischen E-Commerce-Giganten Alibaba. Auch erste Supermärkte, die die Bezahlung nur mit dem Gesicht testen, erfreuen sich regen Zulaufs.
Nur wenige sind skeptisch gegenüber der schönen, neuen Datenwelt
Während in Amerika und Europa viel über die Gefahren der neuen Technologie und den Datenschutz debattiert wird sowie über die Frage, was mit den Daten passieren soll, ist die Wahrung der Privatsphäre in China kaum ein Thema. Wenn doch, dann geht es in Gesetzentwürfen darum, einzelne Nutzer oder Unternehmen abzustrafen, die allzu freizügig mit fremden Daten umgehen, zum Beispiel im Onlinehandel. Der Staat selbst schränkt seine Behörden jedoch nicht ein. Forderungen nach mehr Datenschutz werden ignoriert, sie machen wohl in einem diktatorischen Staat, der auch in anderen Bereichen Menschenrechtsfragen hintanstellt, wenig Sinn.
Chinas Einwohner werden von mehr als 176 Millionen Kameras auf Schritt und Tritt beobachtet
Während es im Schnellimbiss um Bequemlichkeit geht, betont Chinas Polizei, dass das Leben eines jeden Einzelnen dank KI sicherer werde, wenn etwa mit ihrer Hilfe Kriminelle gefasst würden. Entsprechend setzt man die Technologie längst flächendeckend ein: Schätzungen zufolge werden Chinas Einwohner von mehr als 176 Millionen Kameras auf Schritt und Tritt beobachtet. Die Grundlage bildet die Gesichtsdatenbank des Staates. Denn jeder chinesische Personalausweis hat ein biometrisches Passbild, mit dem sich der jeweilige Bürger wiedererkennen lässt. Im Straßenverkehr werden so Verkehrssünder automatisiert zur Rechenschaft gezogen, in etlichen Städten werden Personen beim Über-Rot-Gehen innerhalb von Sekunden auf großen Bildschirmen mit Foto und nicht selten mit persönlichen Informationen wie dem Namen bloßgestellt.
Selbst in großen Menschenmengen gelingt es Chinas Polizisten, mittels spezieller Datenbrillen gesuchte Personen ausfindig zu machen. Eine kleine Kamera an der Sonnenbrille der Polizisten erfasst die Gesichter der Passanten. Die verknüpften Systeme sollen jeden Chinesen, der in der zum Abgleich herangezogenen Datenbank mit Gesichtern gespeichert ist, in Sekundenschnelle erkennen können. So seien im Getümmel am Bahnhof von Zhengzhou während des chinesischen Neujahrsfestes sieben Flüchtige und 26 Personen mit gefälschten Ausweisen gefasst worden, lobt die regierungsnahe chinesische Zeitung „People’s Daily“.
Datenschützer und Menschenrechtsaktivisten stehen den Gesichtserkennungsbrillen kritisch gegenüber. „Einzelnen Polizisten Gesichtserkennungstechnik in Sonnenbrillen zugänglich zu machen könnte den chinesischen Überwachungsstaat noch allgegenwärtiger werden lassen“, befürchtet William Nee, China-Experte bei Amnesty International.
Wenn aus Big Data Big Brother wird
Nees Befürchtung könnte schon bald Wirklichkeit werden, denn Chinas Regierung will alle Daten zusammenführen in einem allumfassenden „Social Credit System“. Schon 2014 veröffentlichte die Regierung in Peking einen entsprechenden Plan zur Schaffung eines Systems, das die Gesellschaft in gute und schlechte Menschen unterteilt. Sämtliche Lebensbereiche sollen erfasst werden: Wer pünktlich seine Rechnungen bezahlt, Verkehrsregeln beachtet, regelmäßig spendet oder sich um seine Eltern kümmert, zum Beispiel indem er oder sie deren Arztrechnungen begleicht, erhält Pluspunkte auf seinem digitalen Verhaltenskonto.
Bis 2020 soll jeder der 1,4 Milliarden Chinesen im Land digital erfasst und bewertet werden
Nicht konformes Verhalten hingegen hat einen Punktabzug zur Folge – ein kleines Minus, wenn der Hund einen Haufen auf einen öffentlichen Rasen setzt; ein großes Minus, wenn man Kritik an der Politik des Landes äußert. All das wird Folgen haben: Menschen mit einem hohen Punktestand werden belohnt, können Zulassungen für Schulen, Beförderungen bei der Arbeit oder schneller einen Termin beim Arzt bekommen. Menschen im unteren Bereich des Verhaltenskontos müssen um ihre Zukunft bangen, denn nicht nur die Bürger können den Punktestand anschauen, auch Arbeitgeber, Banken, Vermieter und sogar Reiseanbieter sollen Einblick erhalten.
Viele Chinesen scheint das allerdings nicht sonderlich zu stören. Einer aktuellen repräsentativen Umfrage der Freien Universität Berlin zufolge befürworten 80 Prozent der Befragten ein solches System. Es sei gut, wenn gesetzestreue Bürger belohnt und Leute, die gegen Regeln verstoßen, bestraft würden. Auch in persönlichen Gesprächen im Himmelstempel, an der Fußgängerampel oder im Schnellimbiss mischt sich nur selten Missmut unter die generelle Zustimmung. Schon jetzt habe der Staat schier unbegrenzte Kontrollmöglichkeiten, heißt es dann. Durch das digitale Megaprojekt würde sich die staatliche Überwachung nicht erhöhen.
Das „System für soziale Vertrauenswürdigkeit“ wird schon jetzt in etlichen Regionen Chinas getestet. Bis 2020 soll es dann jeden der 1,4 Milliarden Chinesen im Land digital erfassen – und bewerten. Dann wird aus Big Data tatsächlich Big Brother.
Fotos: GILLES SABRIE/NYT/Redux/laif