„Sicher fühlt sich hier niemand mehr“
In Myanmar stürzt das Militär die Regierung und geht brutal gegen Demonstrierende vor. Dem Land droht ein Bürgerkrieg. Hier erzählt Aye Thiri Kyaw, 34, wie sie diese Zeit erlebt
Vor vier Monaten hat das Militär unsere Demokratie gestohlen. Ich erinnere mich genau: Am 1. Februar bin ich gegen acht Uhr in meiner Wohnung in Yangon aufgewacht. Wie immer checkte ich erst einmal mein Smartphone – aber irgendwie ging das Internet nicht. Da wusste ich: Etwas stimmt nicht. Meine Mutter sagte: „Das Militär hat die Macht übernommen.“
Im Fernsehen wurde verkündet, dass die regierenden Politiker verhaftet worden seien. Schon in den Wochen vorher wurde überall von einem Putsch gesprochen. Dass ich gerade wirklich einen erlebe, habe ich aber lange nicht begriffen.
Am 1. Februar hat das Militär die eigentliche Regierung des südostasiatischen Landes gestürzt, weil sie bei der Wahl im November 2020 betrogen haben soll. Die Militärregierung verhängte einen einjährigen Ausnahmezustand und in vielen Gebieten Ausgangssperren, sie nahm demokratisch gewählte Politiker/-innen fest und drosselte landesweit das mobile Internet. Die britische Organisation Netblocks schreibt sogar von einem „landesweiten Internet-Blackout“: Durch Einschränkungen für Netzanbieter und Stromsperren sei das Datenvolumen zwischenzeitlich auf wenige Prozent des Normalwertes gefallen.
Nach dem Putsch blieben die meisten mehrere Tage lang zu Hause und verfolgten die Nachrichten. Am 5. Februar schaltete das Militärregime dann gleich für eineinhalb Tage das Internet ab. Damit begannen die Proteste. Zuerst waren es vor allem junge Leute, die gegen die Internetsperre protestierten. Junge Menschen sind in Myanmar wie überall auf der ganzen Welt: immer online. Dass ihnen einfach genommen wird, was so selbstverständlich ist und ihren Alltag bestimmt, hat viele verärgert.
Als das Netz wieder lief, wurden über die sozialen Medien Proteste organisiert. Immer mehr traten den Gruppen und Veranstaltungen bei. Sie forderten, dass die demokratische Regierung zurückkehrt, dass alle inhaftierten Demonstrierenden freigelassen werden. Daraufhin blockierte das Militär Facebook, Twitter und Instagram.
Ich selbst habe auch protestiert. Einmal waren wir gerade eine halbe Stunde auf der Straße, als Sicherheitspersonal anrückte und das Gebiet um uns herum abriegelte. Wir versteckten uns in umliegenden Häusern, ich blieb die ganze Nacht. Das war am 8. März, dem Internationalen Frauentag. Bei diesem Protest hatte ich das erste Mal Angst. Es war bis heute mein letzter.
Viele Protestierende werden verhaftet, manche sogar erschossen. Bislang sollen mehrere Hundert ums Leben gekommen sein. Nachts führt das Militär Razzien in Privatwohnungen durch. Manchmal verhaften sie Menschen allein aufgrund des Verdachts, dass sie mit der Protestbewegung sympathisieren. Vor ein paar Tagen hat das Sicherheitspersonal meinen Nachbarn geholt. Sicher fühlt sich hier niemand mehr.
Produktiv bin ich gerade nicht. Das will ich auch nicht sein, allein schon, um diese Ausnahmesituation nicht als neue Normalität hinzunehmen. Ich saß für Wochen nur zu Hause rum und hab mich gefragt, was ich noch für Myanmar tun kann, jetzt, wo Protestieren zu gefährlich ist.
Ich arbeite wissenschaftlich zu Gewalt gegen Frauen, ein paar meiner Projekte haben zu einem Entwurf für ein großes Gesetz geführt. Es sollte Gewalt gegen Frauen in Myanmar endlich unter Strafe stellen. Durch den Putsch liegt das Gesetz komplett auf Eis. Dafür versuche ich jetzt, Übergriffe gegen Protestlerinnen zu dokumentieren. Manche werden von Sicherheitskräften brutal verprügelt oder sexuell belästigt.
Seit Februar protestieren Zehntausende – überwiegend junge – Menschen gegen die Militärregierung. Die will die Proteste mit massiver Gewalt unterbinden und setzt dabei auch Panzer und Militärhubschrauber ein. Sicherheitskräfte haben laut der Gefangenenhilfsorganisation AAPP bislang knapp 800 Menschen bei Demonstrationen getötet und mehr als 5.000 festgenommen. Viele würden gefoltert und ohne Prozess verurteilt. Aber auch Menschen, die nicht protestieren, sind betroffen: Die Lieferketten in Myanmar liegen lahm: Die Preise für Lebensmittel und Energie steigen, Bargeld gibt es kaum noch, Überweisungen sind fast unmöglich. UN-Vertreter/-innen warnen, die Lage im Land drohe außer Kontrolle zu geraten.
Die „Regierung der nationalen Einheit“ (NGU) ruft seit Wochen zum bewaffneten Widerstand auf. Der Untergrundregierung gehören unter anderem Abgeordnete der abgesetzten zivilen Regierung, Anführer/-innen der Protestbewegung und Vertreter/-innen ethnischer Minderheiten an. Vor kurzem gab die NGU bekannt, eine neue Verfassung für Myanmar ausarbeiten und eine Streitkraft zur Volksverteidigung aufstellen zu wollen. Die Militärregierung ordnet die NGU deshalb jetzt als „terroristische Organisation“ ein, meldete das Staatsfernsehen in Myanmar. So kann künftig jede/-r, der mit der NGU kooperiert oder nur kommuniziert (also auch Journalist/-innen), auf Grundlage der Antiterrorgesetze hart bestraft werden.
Angeführt wird die NGU von Aung San Suu Kyi, die von 2016 bis zum Putsch Regierungschefin Myanmars war. Bei der Parlamentswahl Ende 2020 erreichte Kyis Partei, die Nationale Liga für Demokratie, amtlichen Angaben zufolge die absolute Mehrheit. Nach dem Putsch wurde sie festgenommen. Kyi bekam 1991 einen Friedensnobelpreis, ist aber umstritten: Der Internationale Gerichtshof ermittelt seit 2019, weil sie mitverantwortlich für den Völkermord an den Rohingya sein soll, der in ihre Amtszeit fiel.
Gerade haben die Vereinten Nationen gewarnt, Myanmar könne zum failed state werden. Uns droht ein Bürgerkrieg, aber das ist schon seit Jahrzehnten so. Wir haben 135 anerkannte ethnische Minderheiten in Myanmar, ich selbst gehöre zu den Rakhine. Die Konflikte zwischen Militär und Zivilisten eskalieren vor allem dort, wo viele ethnische Minderheiten leben. Die jungen Menschen in Myanmar glauben kaum daran, dass das alles ein gutes Ende nimmt. Sie sind hoffnungslos, glauben nicht mehr an internationale Unterstützung. Die Vereinten Nationen haben Worte für uns, aber sie tun nicht genug.

Aye Thiri Kyaw hat Gesundheitswissenschaft studiert und setzt sich für Frauenrechte ein. Sie lebt in Yangon, der größten Stadt Myanmars
Titelbild: NYT/Redux/laif
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