Worum geht’s?
„Vice“ erzählt von der 40 Jahre andauernden Karriere des Republikaners Dick Cheney in den Machtzentren der US-Politik: von der Vietnam-Ära unter Präsident Richard Nixon und Interimspräsident Gerald Ford über die neoliberalen Reagan-Jahre bis hin zu seiner Rolle als Verteidigungsminister unter George Bush (1989–1993) und als wesentlicher Akteur des Irakkriegs von 2003 unter dessen Sohn George W. Bush, dessen äußerst einflussreicher Vizepräsident er war. Darüber hinaus zeigt der Film Cheneys Familienleben mit seiner Jugendliebe Lynne. Sie ist es, die ihren Mann, in jungen Jahren ein Studienabbrecher und notorischer Säufer, zu einer ehrgeizigen Laufbahn in der Politik motiviert. Lynne sieht Dick dabei auch als Stellvertreter ihrer eigenen Ambitionen, da sie sich als Frau in den 1960er-Jahren keine vergleichbaren Chancen einräumt.
Was zeigt uns das?
Dass Dick Cheney vermeintlich der mächtigere Mann in der Bush-Administration war und die treibende Kraft für den Irakkrieg und den war on terror. Regisseur und Drehbuchautor Adam McKay will mit seinem Film hinter die Kulissen der Macht blicken. Ihn interessiert, wie viel Einfluss einzelne Personen auf institutionelle Entscheidungsprozesse nehmen können. Im zurückhaltenden Bürokraten Cheney sieht McKay eine prägende Persönlichkeit für die neokonservativen Trendwenden in der US-Politik der vergangenen Dekaden. Dazu gehören die Deregulierung der Wirtschaft, der steigende Einfluss von Lobbyisten sowie die militärischen Interventionen der USA nach dem 11. September 2001. Entwicklungen, die bis heute nachwirken.
Wie wird’s erzählt?
Als beißende Satire mit komplexer Erzählstruktur. „Vice“ springt hin und her zwischen den Zeitebenen und unterbricht regelmäßig die Handlung, um schwierige Zusammenhänge in einer Art Erklärfilm zu erläutern: etwa wenn der Kellner in einem Restaurant das „Menü Guantánamo“ empfiehlt, weil man dort ohne Rechtsverletzung Gefangene foltern kann. Adam McKay hat dieses Stilmittel schon in seinem letzten Film „The Big Short“ etabliert, um einem Massenpublikum die sperrigen Abläufe des Finanzmarkts näherzubringen. In „Vice“ bricht er die „vierte Wand“ aber auch, um darauf hinzuweisen, dass in einem Film über reale Politiker vieles dann eben doch erfunden ist. In diesen Szenen, zum Beispiel wenn die Cheneys im Ehebett plötzlich geschwollenes Shakespeare-Englisch reden, ist der Film am witzigsten.
Good Job!
Christian Bale ist großartig in der Hauptrolle und beweist erneut, dass er der wandlungsfähigste Schauspieler Hollywoods ist. Der 44-Jährige spielt Cheney im Alter von Mitte 20 bis Ende 60 –mit Perücken, jeder Menge Make-up und knapp 20 Kilo mehr auf den Rippen. Hörbar schnauft er jedes Mal durch die Nase, bevor er maulfaule one-liner von sich gibt. Bale ringt auch einer Figur, die als eindimensionaler bad guy angelegt ist, differenzierte Emotionen ab. Am Ende wirkt Cheney trotz seiner Skrupellosigkeit eigentlich ziemlich sympathisch.
Hat mich berührt
Als der konservative Hardliner von seiner Tochter Mary erfährt, dass sie lesbisch ist, reagiert er verständnisvoll. „Es macht keinen Unterschied, wir lieben dich so oder so“, sagt er nur. Politisch bringt das ihn und seine andere Tochter Liz, die selbst als republikanische Abgeordnete kandidiert, in den Konflikt, mit der Partei trotzdem gegen die Rechte von Homosexuellen einzutreten.
Schwächste Szene
Cheney beginnt seine Karriere als Assistent von Donald Rumsfeld, seinem politischen Vorbild. Einmal fängt er seinen Boss vor dessen Büro ab. „Eine Frage noch: Woran glauben wir eigentlich?“ Rumsfeld bricht in Gelächter aus, schüttelt den Kopf, geht wortlos in sein Büro und lacht dort hinter verschlossener Tür weiter. Die größte Schwäche des Films: dass er Machtpolitiker wie Cheney und Rumsfeld für unideologische Opportunisten hält. Dabei ist deren Politik doch stark verankert im neokonservativen Wertekosmos.
FYI
Aktuelle Bezüge zur Trump-Regierung hat „Vice“ in der Frage, wie weit die Macht des US-amerikanischen Präsidenten tatsächlich geht. Cheney handelt im Film auf der Grundlage der sogenannten Unitary Executive Theory. Nach diesem Verständnis der Verfassung wird die Macht des Präsidenten als ausführende Gewalt in keiner Weise eingeschränkt, zum Beispiel bei Personalentscheidungen.
Ideal für …
… desillusionierte Linksliberale, die der Film augenzwinkernd als Kernzielgruppe identifiziert, und selbstironische Konservative, die den Irakkrieg trotz allem immer noch für gerechtfertigt halten. Regisseur Adam McKay glaubt, dass auch Dick Cheney gegen seine Darstellung nichts einzuwenden hätte.
Titelbild: Matt Kennedy / Annapurna Pictures, LLC. All Rights Reserved.