Für meine achtjährige Tochter ist alles noch ganz klar. Tiere sind gut, Menschen schlecht, nicht einmal eine Mücke darf ich erschlagen. Ich solle mir vorstellen, ein Riese käme und würde mich erschlagen, „einfach so“, das sei nicht gerecht: „Tiere wollen doch auch nur leben!“
Mein Einwand, dass auch der Mensch ein Tier sei, womöglich das cleverste und damit gefährlichste Raubtier von allen, weist sie kategorisch zurück: „Du spinnst!“
Aber was unterscheidet eigentlich den Menschen vom Tier?
Während das Gehirn meiner Tochter noch in Entwicklung und die Verbindung aller Neuronen erst nach der Pubertät abgeschlossen ist, verlangsamt sich die Hirnentwicklung bei anderen Säugetieren, etwa Schimpansen, schon im Mutterleib. Wir kommen „unfertig“ zur Welt und bleiben sehr lange anpassungsfähig. Die Größe oder das Gewicht des Gehirns spielt aber – anders als gern angenommen – im Vergleich verschiedener Arten keine entscheidende Rolle. Wichtiger ist die Anzahl der darin verbundenen Neuronen.
Nun ist für manches mitleidende Kind die Grenze zwischen den Arten – hier der Mensch, dort die Tiere – noch eine Selbstverständlichkeit. Das Tier in seiner Natürlichkeit hat Rechte, es steht moralisch höher als der verblendete Mensch. Eine Auffassung, die noch in den frühesten Darstellungen der Menschheit selbst zum Ausdruck kommt. Von den Höhlenmalereien der Steinzeit über die monumentale Kultanlage von Göbekli Tepe in der heutigen Türkei, 11.000 Jahre alt, bis zu ägyptischen Gottheiten, überall sind Tiere oder Mischwesen zu sehen.
Unser heutiges Verständnis vom Menschen als „Krone der Schöpfung“ entstand in einer Zeit, in der Tiere entweder eine Gefahr für den Einzelnen oder die wirtschaftliche Grundlage ganzer Gesellschaften waren, und wurde auch in den monotheistischen Religionen begründet. Im alten Testament heißt es: „Furcht und Schrecken vor euch soll sich auf alle Tiere der Erde legen.“ Zwar gilt auch das Tier als ein Geschöpf Gottes, es ist aber nicht, wie der Mensch, nach „seinem Bilde“ gestaltet. Pech gehabt.
Durch Verwendung von Sprache, Werkzeugen und Vernunft fühlte sich der Mensch lange einzigartig
Aristoteles sah den Menschen als „zoon logicon“, als „denkendes Tier“. Und deckte sich das nicht auch mit unserer Erfahrung? Anders als die Tiere haben wir eine Sprache, greifen nach Werkzeugen, benutzen unsere Vernunft, schaffen Kunstwerke, bilden Gemeinwesen. Damit fühlten Menschen sich lange einzigartig – nur stimmte das nicht. Auch Tiere nutzen Werkzeuge, sie unterhalten sich und bilden soziale Gemeinschaften.
Endgültig zum Einsturz brachte das eitle Selbstbild der Menschen ein lachender Affe. Schon 1871 hatte der Naturforscher Charles Darwin in seinem Buch „Die Abstammung des Menschen“ die evolutionsbiologische Erkenntnis formuliert, dass der Homo sapiens vom Affen abstammt. In „Der Ausdruck der Gemütsbewegungen“ von 1872 war es eine Reihe von Zeichnungen, die für Aufsehen – und ein Umdenken – sorgten. Zu sehen war ein lachender Schopfmakake aus dem Londoner Zoo. Das Tier zog nicht nur die Mundwinkel zu einem Lächeln nach oben, wenn es sich „über Liebkosungen“ freute. Es gab sogar „leise schnatternde Geräusche“ von sich. Dieses Lachen ließ Darwin naturgetreu zeichnen – und stellte es in eine Reihe mit lächelnden Mädchen und einem lächelnden alten Mann. Diese Darstellung tierischen Gefühlslebens war zwar kein wissenschaftlicher Beweis. Sie war aber ein höchst suggestives Gegenbild zum Affen als finsterem Monster. Ein Skandal. Oder, wie Sigmund Freud knapp 50 Jahre später feststellte, eine der drei großen „Kränkungen der Menschheit“.
Als Kränkung bezeichnete der Nervenarzt und Vater der Psychoanalyse wissenschaftliche Entdeckungen, die das narzisstische Selbstverständnis des Menschen nachhaltig infrage stellten. Die erste Kränkung war die Feststellung, dass die Erde nicht der Mittelpunkt des Universums ist. Die dritte Kränkung war Freuds Erkenntnis, dass der Mensch von Trieben gesteuert und nicht einmal „Herr im eigenen Haus“ ist.
Kreationisten beharren bis heute auf der besonderen Stellung des Menschen in einem göttlichen Schöpfungsplan
Die zweite Kränkung, die Abstammung des Menschen von den Tieren, wurde stets am heftigsten bekämpft und ist auch nach rund 150 Jahren nicht überall angekommen. Heute noch weigern sich die sogenannten Kreationisten, den Menschen als Teil der belebten Natur zu betrachten – und beharren auf unserer besonderen Stellung in einem göttlichen Schöpfungsplan.
Ein verlorener Posten, gerade im Lichte wissenschaftlicher Forschung. Gesucht wird dabei weniger nach dem Tier im Menschen, eher nach dem Menschlichen im Tier. Ideales Forschungsobjekt: der Schimpanse, unser nächster Verwandter, mit dem wir fast 99 Prozent der Gene und einige Verhaltensweisen teilen – das Pflegen von Freundschaften, die Benutzung von Werkzeugen, das Führen kriegerischer Auseinandersetzungen.
Primatologen des Max-Planck-Instituts beobachteten an Schimpansen im westafrikanischen Taï-Nationalpark ein ausgeprägtes Sozialverhalten, das nicht von Eigennutz gekennzeichnet war. Über Jahre hinweg kümmerten sich erwachsene Männchen intensiv um verwaiste Schimpansenkinder, teilten Nahrung und nahmen sie in Schutz.
Im selben Nationalpark stellten die Forscher fest, dass Schimpansen sich ihre Partner für die notwendige Fellpflege sehr genau aussuchen – nach dem Rang im Rudel oder danach, ob das betreffende Tier gerade ein Baby hat. Dazu bedarf es, so die Forscher, kognitiver Fähigkeiten, die im komplexen Sozialgefüge zum Erfolg verhelfen. 2015 bestätigte eine Studie der Universität Portsmouth sogar Darwins Vermutung, dass Affen das Lachen ebenfalls flexibel einsetzen. Vom lauten Gackern bis zum stummen Grimassieren zählten die Forscher 14 verschiedene Gesichtsausdrücke, die als „Lachen“ interpretiert werden könnten – und je nach sozialer Aktion eingesetzt werden. Gelacht wird beispielsweise auch, wenn das Gegenüber lacht. Eine spiegelnde Reaktion, die zu den Schlüsselkomponenten auch der menschlichen Kommunikationspalette zählt. Verblüffende Intelligenz zeigt sich auch unter Wasser. Berühmt wurde ein Delfin namens Kelly am Institut für Meeressäugerstudien in Mississippi. Die dort lebenden Tiere wurden jedes Mal mit einem Fisch belohnt, wenn sie ihrem Trainer Müll brachten, der ins Becken gefallen war. Kelly ging dazu über, Papier unter einem Stein zu verbergen – und dem Trainer immer nur einen kleinen Fetzen davon zu bringen. Ein Beispiel für ökonomische Vernunft.
Eine Termitenkolonie, 4.000 Jahre alt und so groß wie Großbritannien
Ameisen oder Termiten gründen gewaltige Staaten, die es unter günstigen Bedingungen sogar mit manchem Weltreich aufnehmen können. In Brasilien wurde erst 2018 eine teilweise versteinerte, teilweise noch bewohnte Termitenkolonie mit einem Alter von 4.000 Jahren und der Ausdehnung von Großbritannien entdeckt. Vom Singvogel bis zum Blauwal pflegen Tiere ihre Sprachen, zum Teil wurden regionale Dialekte nachgewiesen. Krähen benutzen Stöckchen als Werkzeuge, um an Würmer in faulem Holz zu kommen – oder lassen Nüsse dort auf der Straße liegen, wo Autos darüberfahren und sie knacken. Neulich erst überraschten Putzerfischchen die Forscher vom Max-Planck-Institut für Verhaltensbiologie mit einer Form von Selbsterkenntnis – indem sie versuchten, Farbflecken loszuwerden, die sie nur im Spiegel erkennen konnten.
Je genauer die Grenze zwischen Mensch und Tier unter die Lupe genommen wird, umso mehr erweist sie sich in allen Bereichen als nur graduell. Die Diskussion darüber, was uns eint oder trennt, hat gerade erst begonnen – und führt an den Anfang zurück.
Theologisch gesprochen sind Tiere „in Gott“, denn sie haben nicht vom Baum der Erkenntnis gegessen. Ihre Lebenswelt ist sinnlicher als die des Menschen, ihre Fähigkeit zu Abstraktion eingeschränkt. Eine Oper oder eine mathematische Formel werden wir von ihnen nicht erwarten dürfen.
Philosophisch gesprochen ist der Mensch das Tier, das Kenntnis von seiner Sterblichkeit hat – und auch davon, dass es ein „Mensch“ ist. Wir dürfen von ihm erwarten, dass er sich seiner Verantwortung für das Tier und dessen Rechte bewusst wird.
Illustration: Frank Höhne