In der Nacht, in der Donald Trump US-Präsident wurde, kannten sich Naomi Burton und Nick Hayes noch nicht. Aber sie hatten denselben Impuls: irgendetwas tun, aktiv werden, andere finden, die genauso ratlos oder wütend sind. So fanden Burton und Hayes zu den Democratic Socialists of America (DSA), einer Bewegung, die den linken Flügel der US-Demokraten stärkt und durch den selbst ernannten Sozialisten Bernie Sanders zuletzt regen Zulauf hatte.
Burton und Hayes stellten noch während des ersten DSA-Meetings in Detroit eine Gemeinsamkeit fest: Sie waren beide schon länger von ihren Jobs frustriert. Burton verdiente als PR-Beraterin gutes Geld, schlief aber über den Social-Media-Posts ein, die sie formulieren musste. Hayes drehte als freier Filmemacher Werbeclips für Autofirmen.
Heute sind die 30-jährige Burton und der 22-jährige Hayes nicht nur ein Paar, sie sind auch Partner. 2017 gründeten sie die Produktionsfirma Means of Production. Und wurden schon im Jahr darauf bekannt durch einen zweiminütigen Clip, der der damaligen Außenseiterin Alexandria Ocasio-Cortez zum Einzug in den Kongress verhalf. Keine 10.000 US-Dollar kostete das Video, das millionenfach angesehen wurde. Means of Production war plötzlich a thing, wie man in den USA sagt. Eine ernstzunehmende Sache.
Anfang 2020 wollen Burton und Hayes einen Streamingdienst starten: Means TV soll die erste antikapitalistische Videoplattform sein. Das heißt nicht, dass die Inhalte kostenlos sind – Mitglieder zahlen zehn US-Dollar im Monat, ähnlich viel wie für einen Netflix-Account –, Means TV soll vielmehr den Mitarbeiter*innen gehören. Bislang besteht die Genossenschaft neben den Gründer*innen aus der Comedian Sara June und zwei Podcastern, Brett Payne und Bryan Quinby von Street Fight Radio.
„Wir wollen hier keine Sitcoms, in der es mehr Schlafzimmer als Figuren gibt“
Die fünf wollen Dokumentationen, Serien, Comedyformate und Cartoons anbieten. Nicht alle sollen explizit politisch sein, sagt Burton. „Aber sie haben eine antikapitalistische, antirassistische und feministische Grundhaltung.“ Alle Formate, betont sie, sollen die Interessen und Sorgen der Arbeiterklasse repräsentieren. „Wir wollen hier keine Sitcoms, in der es mehr Schlafzimmer als Figuren gibt.“
Deshalb zog Means TV auch nicht in die Medienstädte New York oder Los Angeles, sondern blieb in der Autostadt Detroit; mitten im Rust Belt, einer von Deindustrialisierung, Massenarbeitslosigkeit und Einwohnerschwund geprägten Region, in der Trump bei der US-Wahl 2016 große Erfolge feierte. „Es geht oft an der Realität vorbei, wie die Arbeiter, die Menschen aus dem Mittleren Westen im Fernsehen porträtiert werden. Unsere Perspektive ist eine andere“, sagt Hayes.
Einen Vorgeschmack gibt es auf dem YouTube-Kanal von Means TV. Gut 80 Clips sind dort zu sehen, die wenigsten länger als fünf Minuten. „Was ist Öko-Sozialismus?“ wird in einem Video gefragt. Warum die „Mittelschicht ein Mythos“ sei, klärt ein anderes. Als Inspiration sollen Serien wie „Rick and Morty“ oder „The Simpsons“ dienen, auch eine subversive Version von „The Office“ ist angedacht. Einen Großteil der Filme und Shows will Means TV selbst produzieren, es sollen aber auch Inhalte eingekauft werden.
Das große Problem des ersten antikapitalistischen Streamingsenders: das Kapital
Wer wenige Wochen vor dem Launch mit den Gründerinnen Hayes und Burton spricht, spürt erst mal ihre Ungeduld: Es laufe nicht so schnell, wie sie es sich wünschen. Rund 155.000 Abonnenten hat Means TV bei YouTube. „Teen Vogue“ und „Huffington Post“ haben berichtet, genauso wie Fox News und das rechtspopulistische Breitbart, das vor einer sozialistischen Revolution warnte. Die Aufmerksamkeit wächst, auch weil Alexandria Ocasio-Cortez weiter für Means TV wirbt. Nur von ihrem eigentlichen Ziel sind Burton und Hayes immer noch weit entfernt: Bis zum Start der Plattform Anfang 2020 sollen 500.000 US-Dollar Spenden gesammelt werden, das Budget für ein Jahr. Bislang sind nur 137.000 US-Dollar zusammengekommen.
„Die meisten geben einen oder fünf oder zehn Dollar“, sagt Burton. Konservative und rechte Medien hätten es da einfacher, weil reiche Republikaner hinter ihnen stehen. Wie zum Beispiel die Streaming-Plattform „Subverse“ von Tim Pool. Der Journalist und Kritiker der US-Linken konnte für die Plattform bereits über eine Million US-Dollar sammeln, obwohl nur etwa 3.700 Menschen spendeten – rund 2.000 Spender weniger als bei Means TV. „Es gibt nicht viele reiche Philanthropen, die Interesse an einem antikapitalistischen Medium haben“, sagt Hayes.
Gehören linke Medienangebote zu lebendigen Gesellschaften – oder polarisieren sie unnötig?
Means TV will in der Medienlandschaft eine Leerstelle besetzen. Während konservative Sender wie Fox News und das mitteorientierte CNN den Nachrichtenmarkt dominieren, hat sich die US-Linke zuletzt vor allem über Journalismus und Podcasts positioniert. Eine Fernsehplattform, die Aufklärung mit linker Unterhaltung verbindet, gibt es noch nicht.
Manche finden, es braucht gar keine: Burton und Hayes gehören zu einer Organisation, die deutlich links der politischen Mitte steht, und wollen dem US-Medienspektrum mit Means TV einen neuen, linken Rand geben. So trügen sie zur Polarisierung der Gesellschaft bei, so der Vorwurf. Hayes und Burton widersprechen. Sie finden, dass ein linkes Streamingangebot für mehr Pluralisierung und Repräsentation sorgen kann.
Das politische Klima jedenfalls spricht dafür: Mit Elizabeth Warren und Bernie Sanders kandidieren derzeit gleich zwei Demokraten für das Weiße Haus, die sich links der Mitte positionieren. Die DSA sind innerhalb weniger Jahre von 6.000 auf rund 60.000 Mitglieder gewachsen. Linke Magazine wie „Jacobin“ und „Current Affairs“ und der Podcast „Chapo Trap House“ haben sich zu Marken entwickelt, mit Einfluss und großem Publikum. Vor kurzem wäre ein Projekt wie Means TV vermutlich in der Nische verschwunden. Aber die politischen Vorzeichen haben sich verändert.
Illustration: James Clapham