Wir werden nackt geboren, doch wir bleiben es nicht lange. Was im Grunde als das Natürlichste von der Welt erscheint, ist es seit Jahrtausenden nicht mehr. Zwischen Scham und Provokation, zwischen Kontrolle und Freiheitsstreben ist Nacktheit alles andere als eine einfache Sache. Erst recht in der Öffentlichkeit. Wer sich hier auszieht, der bekommt große Aufmerksamkeit und muss mit heftigen Reaktionen rechnen. Der bricht Tabus, zeigt aber auch eine irritierende Verletzlichkeit. Insbesondere seit den 1960er-Jahren hat sich der politische Protest dies zunutze gemacht. Das geht ja ganz fix, sich die Kleider vom Leib zu reißen, und es ist auch gar nicht teuer. Zumal wir unseren Körper „immer dabei haben“, wie es der US-Soziologe Erving Goffman mal formuliert hat.
Vor allem seit den Tagen der 1968er-Bewegung wogen bei Nacktprotesten immer wieder die Brüste, sehr medienwirksam und dabei auch kommerziell einträglich. Und es pendeln – allerdings etwas seltener – die Penisse. Die straff organisierten Femen-Frauen mit beschrifteten Oberkörpern, die wir heute kennen, hatten diverse Vorgängerinnen und Vorgänger. Ob Hippies oder Hausbesetzer – alle haben sie schon mal blank gezogen. Berühmt ist das Nacktbild der Kommune 1 von 1967. Es zeigt die Bewohner der politisch motivierten Wohngemeinschaftan die Wand gelehnt wie bei einer Polizeiaktion. Der Zeitgeist war nackt damals: 1968 präsentierten sich der Beatles-Musiker John Lennon und die Konzeptkünstlerin Yoko Ono ohne alles auf dem Album-Cover von „Unfinished Music No.1: Two Virgins“. Die Platte wurde in einer zusätzlichen Packpapierhülle verkauft.
Immer wieder wurde der Körper als politisches und künstlerisches Protestinstrument genutzt – mal ging es gegen Repression oder Krieg, mal gegen Sexismus oder die Diskriminierung von Homosexuellen, mal gegen Rassismus oder muffige gesellschaftliche Konventionen. Auch Tierschützer, Umweltschützer und Radfahrer sind bis heute immer mal wieder nackt unterwegs. Denn sie funktioniert erstaunlicherweise immer noch, die Polit-Transparenz – auch in den Zeiten der Daueranwesenheit nackter Körper in der Werbung und pornografisierter Ästhetik allüberall. Besonders dort, wo Religion ins Spiel kommt. Aufmerksamkeit erregte die politische Nacktheit 2011 während das Arabischen Frühlings ebenso wie 2013 beim Weihnachtsgottesdienst im Kölner Dom oder 2014 an der Weihnachtskrippe im Vatikan.
Dass der Nacktprotest bis heute aktuell geblieben ist, liegt auch an dem für ihn typischen Symbolpotenzial. Dies beschrieb der Kulturjournalist Christian Buß 2011 auf Spiegel Online so: „Während der Protestierende selbst nicht mehr macht, als sich entkleidet im Bett, auf der Wiese oder im öffentlichen Raum zu drapieren, fährt der Gegner seinen Waffenpark oder seinen Beamtenapparat auf, um den anderen still zu stellen.“ Dabei wirke der Nackte als Underdog sympathisch, sein Gegner dagegen lächerlich: „Ein System, das Uniformierte aufbietet, um einen Nackedei zu überwältigen, hat ein Problem.“
Bei aller Sympathie mit den Nackten gibt es aber auch Kritik. Etwa wenn die Tierschutzorganisation Peta nach dem Motto „sex sells“ ständig auf gut ausgeleuchtete, perfekt geschminkte (halb-)nackte Models und Promis setzt. Auch die Aktivistinnen der 2008 in der Ukraine gegründeten Gruppe Femen, die sich als feministisch begreifen, mussten sich teils heftige Kritik gefallen lassen. Den Femen-Frauen, die inzwischen Ableger in verschiedenen Ländern etabliert haben, wurde etwa von der australischen Dokumentarfilmerin Kitty Green vorgeworfen, dass sie sich zeitweise von einem Mann steuern ließen. Bemängelt wurde auch, dass die oftmals ausgesucht hübschen Femen-Frauen allzu sehr den voyeuristischen Blick bedienen würden und als Kamerafutter dienten. Kritisch debattiert wurden zudem Femen-Nacktproteste gegen Prostitution in Hamburg und gegen Frauenunterdrückung vor einer Berliner Moschee.
Der moderne Nacktprotest hatte übrigens auch historische Vorläufer. Die reichen weiter zurück als in die 1960er-Jahre, meint der Hamburger Protestforscher Wolfgang Kraushaar, der gerade an einem Buch über Nacktprotest arbeitet. „In bestimmter Hinsicht gab es das bereits seit der Antike und dem Mittelalter“, sagt Kraushaar. „Die Vorläufer des Nacktprotests waren allerdings durchweg religiöser Natur.“ Der Politikwissenschaftler erwähnt etwa die sogenannten Adamiten in Nordafrika im 2. Jahrhundert, die sich auf die paradiesische Nacktheit beriefen – und deren Überzeugungen sich vom 13. bis zum 18. Jahrhundert in verschiedenen mitteleuropäischen Ländern ausbreiteten. Nacktprozessionen gab es im selben Zeitraum in Frankreich.
Auch später bildeten sich laut Kraushaar ähnliche Gruppen wie etwa eine aus der Ukraine stammende Sekte, die zu Beginn des 20. Jahrhunderts über das zaristische Russland nach Kanada geflohen war. Dort protestierten sie als „Sons of Freedom“ über Jahrzehnte hinweg unbekleidet gegen den Materialismus. Dann ebbte der Nacktprotest ab, bis ihn in den späten 1960er-Jahren Hippies und Studenten wieder entdeckten.
Inwischen hat es Nacktproteste in Afrika und China ebenso gegeben wie in Lateinamerika, Spanien, der Türkei und Weißrussland - vereinzelt selbst in arabischen Ländern wie Ägypten. Daher kann heute laut Kraushaar durchaus von einer „Globalisierung des Nacktprotests“ gesprochen werden.
Ausgezogen, die Welt zu verändern –
ein paar Beispiele globalen Nacktprotests:
Mexiko, 2015
Das mexikanische Protestprojekt „Poner el Cuerpo, Sacar la Voz“ (wörtlich übersetzt: „Den Körper nutzen, die Stimme ausdrücken“) stellt Fotos von Nackten her, die mit auf den Körper gemalten Slogans protestieren: zum Beispiel gegen das Verschwinden von 43 Studenten und gegen die allgegenwärtige Korruption im Land. Die 43 Studenten waren im Herbst 2014 im Anschluss an eine Demonstration verschwunden und sind mutmaßlich ermordet worden. Sie wurden nach bisherigen Erkenntnissen von Polizisten verschleppt und einer kriminellen Organisation übergeben.
Deutschland, 2013
Zwei Aktivistinnen der Gruppe Femen, Hellen Langhorst und Zana Ramadani, stören das Finale der Fensehshow „Germany’s Next Topmodel“ mit Heidi Klum. Sie stürmen in der Mannheimer SAP-Halle auf die Bühne, auf ihren entblößten Oberkörpern steht in großen schwarzen Lettern: „Heidi Horror Picture Show“. In Anlehnung an das Auswahlritual der Castingshow rufen die Femen-Frauen: „Heidi, wir haben kein Foto für dich!“ Mit ihrer Aktion wollen die beiden dagegen protestieren, dass Frauen in der Fernsehshow in eine bestimmte Rolle gepresst werden. Langhorst: „Für eine ganze Generation wird Schönheit über Bildung gesetzt, in dieser Hinsicht sind Klum und ihre Show eine einzige Dreckschleuder.“
Frankreich, 2013
In Frankreich kommt es zu Massenprotesten gegen die Öffnung der Ehe sowie das Adoptionsrecht für homosexuelle Menschen. Darunter ist auch eine Gruppe von Männern, die sich Hommen nennt. Diese versuchen, ähnlich wie die Femen-Bewegung, durch die Zurschaustellung von nackten Oberkörpern mediale Aufmerksamkeit zu bekommen. Allerdings ist dabei ihr Gesicht maskiert. In mehreren französischen Städten kommt es zu Protesten der Hommen, beim Endspiel des Tennisturniers von Paris stürmt ein Mann mit einer Fackel auf das Spielfeld. Dass die Hommen-Aktivisten maskiert sind, sorgt für Kritik und Spott - anscheinend fehle ihnen der Mut, mit dem Gesicht zu ihrer Sache zu stehen. Die französische Regierung lässt sich letztlich nicht beeindrucken, das Parlament beschließt die Öffnung der Ehe für lesbische und schwule Paare sowie das Adoptionsrecht.
Ägypten, 2011
Die ägyptische Kunststudentin Alia Magda al-Mahdi posiert nackt im Internet. Die Fotos zeigen sie nur mit Nylonstrümpfen, Lackschuhen und einer Schleife im Haar - dies soll laut al-Mahdi ein Statement sein „gegen eine Gesellschaft von Gewalt, Rassismus, Sexismus, sexueller Belästigung und Heuchelei“. Die provokante Aktion während des Arabischen Frühlings bringt der damals 20-Jährigen Drohungen, aber auch Solidaritätserklärungen ein. 2012 verließ al-Mahdi Ägypten und lebt seither in Schweden. Dort setzte sie ihre Protestaktionen fort – zum Teil gemeinsam mit Femen-Aktivistinnen.
Deutschland, 1999
Ein feierliches Bundeswehr-Gelöbnis in Berlin wird trotz des Einsatzes von Hunderten Polizisten und Feldjägern von rund 20 Antikriegsaktivisten gestört. Ihr Protest richtet sich gegen militärische Zeremonien in der Hauptstadt. Einige reißen sich die Kleidung vom Leib, andere spannen Schirme auf, auf denen zu lesen ist: „Tucholsky hat recht“ – eine Anspielung auf Kurt Tucholskys Ausspruch „Soldaten sind Mörder“. Mehreren Frauen gelingt es, fast nackt beziehungsweise oben ohne über den Platz im Bendlerblock zu flitzen. Einige haben ihre Brüste mit Parolen bemalt. Feldjäger fangen die Frauen, die von demonstrierenden Männern flankiert werden, schließlich ein.
Hans-Hermann Kotte hat als Journalist schon über diverse Proteste geschrieben und war auch als interessierter Staatsbürger selbst auf so einigen Demos unterwegs. Allerdings nie nackt – inzwischen ist er ohnehin aus dem Alter heraus.