fluter: Gibt es einen Unterschied, ob man direktes Opfer eines Anschlags ist oder Zeuge?
Rainer Rothe: Eigentlich gibt es keinen Unterschied. Man weiß aus der Hirnforschung, dass im Gehirn des Beobachters durch die sogenannten Spiegelneuronen dasselbe passiert wie beim Opfer. Ich habe mit vielen jungen Frauen und Männern gearbeitet, die in Nizza auf Klassenfahrt waren und leider diesen furchtbaren Terroranschlag miterleben mussten. Dass das Zuschauen starke Auswirkungen hat, sieht man auch an vielen Feuerwehrleuten, Sanitätern und Polizeibeamten mit starken posttraumatischen Folgen.
Was bedeutet das genau?
Es kommt zum Beispiel zu Flashbacks. Bilder des Anschlags kommen wieder hoch, wenn man beispielsweise ähnliche Geräusche hört. Wenn der Anschlag durch einen Laster passierte, können Laster generell Trigger sein, manchmal nur der Geruch von Diesel. Typisch ist auch das unbedingte Vermeiden bestimmter Situationen. Manche können nicht mehr mit den öffentlichen Verkehrsmitteln fahren oder an Orten mit vielen Menschen sein. Außerdem kann es zu Panikattacken, Schlafstörungen, Herzproblemen oder anderen körperlichen Schmerzen kommen. Ein Terroranschlag trifft einen Menschen in der Gesamtheit seiner Persönlichkeit.
Wie unterscheiden sich unmittelbare und Spätfolgen bei Terroranschlägen?
Manche gehen sofort nach Hause, andere erstarren oder laufen herum, wissen nicht mehr, wo oben oder unten ist. Sie spüren ihren Körper nicht mehr, haben ein Taubheitsgefühl und befinden sich in einem Schockzustand. Die meisten Patienten berichten von extremen Albträumen und Schlafstörungen. Bei einigen Opfern passiert das sofort nach dem Anschlag und bei anderen erst nach drei oder vier Tagen. Oft können die Spätfolgen drastischer sein. Wenn sich jemand immer mehr zurückzieht, nicht mehr kommuniziert, monatelang nicht arbeiten kann, dann verliert er sein Umfeld und sein Selbstvertrauen. Deswegen sagen einige: „Ich will gar nicht mehr leben.“ Wenn so eine extreme Belastung nach ungefähr zwei Jahren immer noch nicht verarbeitet ist, kann es zu einer Persönlichkeitsveränderung kommen.
Wie sieht eine Therapie nach einem Anschlag aus?
Die erste Phase ist die der Stabilisierung. Nach einem Terroranschlag muss zunächst dafür gesorgt werden, dass der Patient wieder Boden unter den Füßen bekommt und den Alltag bewältigen kann. Manchen hilft es, normal weiterzuarbeiten. Andere machen etwas, das ihnen wieder Halt und Sicherheit gibt: in die Natur gehen, an ihren Lieblingsplatz oder vom Partner gehalten werden. Später ist die Methode der Expositionstherapie oft hilfreich. Dabei geht man in der Fantasie das durch, was derjenige erlebt hat, oder sogar zurück zum Ort des Geschehens. Für manche Patienten ist das zu früh, sie drehen völlig durch, schreien oder rennen weg. Der Therapeut muss somit sehr vorsichtig sein. Ein Terroranschlag ist der größte Kontrollverlust im Leben eines Menschen, daher muss der Patient in der Therapie die totale Kontrolle über jeden Schritt haben. Bis jemand so weit ist, kann es manchmal mehrere Monate dauern.
„Angehörige sollten die Terroropfer so sein lassen, wie sie gerade sind. Das braucht viel Geduld, hilft aber kolossal“
Was würden Sie Angehörigen von Opfern raten, um bei der Verarbeitung zu helfen?
Anerkennung und Solidarität mit Opfern sind Heilungsfaktoren. Besonders gut verläuft das posttraumatische Syndrom, wenn die Eltern, der Partner oder irgendjemand, der Verständnis hat, für das Opfer da ist. Angehörige sollten die Betroffenen so sein lassen, wie sie gerade sind. Das braucht viel Geduld, hilft diesen Menschen aber kolossal.
Wie lange dauert es, bis man völlig über so etwas hinwegkommt?
In der Forschung hat man festgestellt, dass Traumata im Gehirn gespeichert und nicht zu löschen sind. Opfer können höchstens Abstand gewinnen und durch Therapie lernen, damit umzugehen. Das heißt, das traumatische Erlebnis bleibt als solches ein Leben lang erhalten.
Opfer von Terror haben ein Recht auf Rente, wenn ein bestimmter Grad der Schädigung vorliegt. Bei psychischen Erkrankungen wird das anhand psychologischer Tests getan. Was halten Sie davon?
Psychologische Tests werden der Situation sehr gerecht. Man kann damit die Tiefe einer Depression feststellen und ob ein posttraumatisches Syndrom überhaupt besteht. Werden die Tests nicht gemacht, entstehen oft Fehldiagnosen. Das ist für die Patienten sehr schlimm.
Nach dem Anschlag auf dem Berliner Breitscheidplatz haben sich viele Opfer über zu wenig Hilfe beklagt. Was lief da schief?
In Berlin hätte bereits die Erstbetreuung anders aussehen müssen. Die Betroffenen hätten zügiger aufgeklärt werden müssen und schneller in eine Therapie gemusst. Bei den meisten Traumaopfern hat das ein Jahr gedauert. Dann wurde den Angehörigen zusätzlich Leid zugefügt, etwa wenn ihnen Rechnungen für die Obduktion der Mutter oder des Vaters geschickt wurden.
Was muss der Staat tun, um Opfern besser zu helfen?
Der Staat muss dafür sorgen, dass alle Opfer unbürokratisch eine Entschädigung bekommen und als Opfer anerkannt werden, ohne zu etlichen Gutachtern gehen zu müssen. Zudem muss ihnen eine gute Therapie zugesichert werden. In anderen Ländern werden Opfer mit einer bestimmten Summe entschädigt und bekommen sogar einen Coach an die Seite gestellt, der Termine mit Ämtern erledigt.
Was sollte denn die Öffentlichkeit tun, um Opfern von Terroristen zu helfen?
Medien müssen mehr darüber berichten. Es ist wichtig, dass in den Zeitungen nicht nur über die Täter geschrieben wird, sondern ebenfalls über die Opfer. Somit erfahren Opfer von der Gesellschaft endlich Solidarität. Ich bin dafür, dass man hier in Berlin eine Gedenkstätte für Terroropfer weltweit baut. Man braucht solche Rituale und Gedenkstätten, damit auch der Allerletzte begreift, dass Terror für niemanden eine Option ist.
Das Titelbild wurde von einem französischen Kind nach den Anschlägen in Paris gemalt. (Foto: Joel Saget/Gamma-Rapho via Getty Images)