Für eine halbe Millionen Erstsemestler*innen beginnt bald die Uni. Sie haben sich für einen von 20.000 Studiengängen in Deutschland entschieden. Aber für viele Bewerber*innen stellt sich vor dem Studium gar nicht die Frage: Welches Fach passt am besten zu mir? Sondern: Wofür reicht mein Abischnitt? Spreche ich gut genug Deutsch? Kann ich mir ein Vollzeitstudium leisten? Vier Studierende erzählen.
„Es kam mir vor, als seien Gymnasiasten in einer anderen Welt aufgewachsen“
Janna Voigt, 25, war überrascht, überhaupt die Realschule geschafft zu haben. Heute studiert sie im Master Soziale Arbeit in Emden.
Ich glaube, dass unser Bildungssystem durchlässiger werden muss. Soziale Unterschiede haben einen viel zu großen Einfluss auf die Bildungschancen, gerade vermeintlich bildungsferne Schichten werden schlecht aufgeklärt. Auf einer Infoveranstaltung habe ich zum Beispiel mal junge Menschen ängstlich fragen gehört, ob ein Studium tatsächlich 1.000 Euro im Monat kosten würde.
Die Sache ist: Die Frage hätte gut von mir sein können. Wenn mich in der Schule jemand gefragt hätte, was ein Campus ist oder eine Immatrikulation, ich hätte googeln müssen. Ich war auf einer Realschule, hatte eher mäßige Noten und dachte immer, dass Abitur und Studium nur was für Hyperintelligente sind – zu denen ich dann wohl niemals gehören würde. Deshalb war ich baff, dass ich den erweiterten Realschulabschluss geschafft habe und überhaupt die Möglichkeit hatte, ein Gymnasium zu besuchen. Ich ging eigentlich nur hin, um Zeit zu überbrücken, und kam mir meist vollkommen fehl am Platz vor. Es schien, als seien die „normalen Gymnasiasten“ in einer anderen Welt aufgewachsen: Aliens mit Superhirnen, tollen Pausenbroten und eigenen Laptops.
Mein Glück waren die Lehrer und Lehrerinnen an meinem Gymnasium. Sie haben mir gezeigt, dass ich was kann und dass es sich lohnt, über ein Studium nachzudenken. Meine Eltern haben kein Abitur und konnten mir nicht viel über das Studieren erzählen. Ohne meine Lehrer stünde ich heute ohne Abitur und Studienplatz da. Ich hatte Glück.
„Ich habe nicht daran geglaubt, dass ich den Vorlesungen irgendwann folgen kann“
Basel Bubo, 25, ist ursprünglich aus Syrien, seit fünf Jahren in Deutschland und studiert Bauingenieurwesen an der FH Erfurt.
Ich bin 2015 allein nach Deutschland gekommen. Von Anfang an wollte ich Bauingenieur werden. Das war mein festes Ziel, aber überhaupt nicht einfach. Die größte Herausforderung war die Sprache. Ich habe an einem Institut Deutsch gelernt, später an der Uni. Der Kurs hat mir sehr gefallen: Ich saß zum ersten Mal in der Bibliothek und habe andere Studierende kennengelernt.
Um mich fürs Studium bewerben zu können, musste ich mein syrisches Abitur anerkennen lassen. Das hat Monate gedauert, also habe ich die Bauingenieurskurse erst mal als Gasthörer besucht. Das war wichtig: Ich bekam einen Eindruck vom Studieren und habe Professoren kennengelernt, musste aber keine Prüfungen schreiben. Als ich mich dann fürs Studium beworben habe, hatte ich erst das Level B1 in Deutsch. Ich wurde trotzdem zugelassen – unter der Voraussetzung, bis Semesterbeginn die C1-Prüfung zu schaffen.
Das hat zum Glück geklappt. In den ersten Vorlesungen habe ich trotzdem nur zehn Prozent verstanden. So viele Wörter, die ich nicht kannte. In der Vorlesung war es ganz anders als in den Deutschkursen. Zu Kumpels habe ich damals gesagt: „Vielleicht suche ich mir lieber einen Job bei Zalando.“ Ein Scherz war das nicht: Ich habe wirklich nicht daran geglaubt, dass ich den Vorlesungen irgendwann folgen kann. Erst später wurde mir klar, dass das nicht nur an der Sprache lag: Viele Muttersprachler fanden die Kurse auch schwierig.
Inzwischen bin ich im vierten Semester. Ich verstehe fast alles, was in den Vorlesungen gesagt wird, habe die meisten Prüfungen geschafft und ganz gute Noten. Seit diesem Semester arbeite ich nebenher in einem Ingenieurbüro.
„Manchmal denke ich, die Ausbildung war verlorene Zeit“
Dominik Pertl, 23, studiert International Business an der ESB Reutlingen – nachdem er erst mal eine Ausbildung gemacht hat.
In der Grundschule war ich ein guter Schüler, aber am Gymnasium habe ich früh gemerkt: Ohne Erfolge macht das Lernen keinen Spaß. Zur siebten Klasse musste ich auf eine Realschule wechseln. An der war ich überraschenderweise kaum besser als am Gymnasium.
Nach der Schule habe ich deshalb eine Ausbildung begonnen als Assistent für Hotelmanagement. Ein Einserschüler war ich da erst mal auch nicht. Dafür konnte ich in Spanien und England arbeiten und die Sprachen lernen. Erst da wurde mir klar, wie toll Bildung sein kann und dass ich mich nicht langfristig in der Hotellerie sehe.
Im letzten Ausbildungsjahr wurde ich deshalb schlagartig besser. Ich beschloss, mein Abitur nachzuholen. Das war eine harte Zeit. Von den 20 Leuten, die mit mir an der Beruflichen Oberschule angefangen haben, haben sieben ihr Abitur geschafft.
Sicher kann man mit Nachhilfe oder Unterstützung der Eltern viel machen. Aber wenn ich heute darüber nachdenke, wird mir klar, wie riesig der Einfluss der Lehrer auf die eigene Bildungslaufbahn ist. Ich hatte erst in der Ausbildung Lehrer, die mich ernst genommen und mir mehr zugetraut haben. Während mir auf dem Gymnasium eher gesagt wurde, wie wenig ich dort hinpasse. Dabei denke ich heute nicht, dass ich damals zu schlecht fürs Abitur war.
An der Uni komme ich jetzt super zurecht. Auf der Oberschule war ich immer einer der Jüngsten, hier gehöre ich zu den Älteren. Ich bin unsicher, wie viel mir die Ausbildung wirklich gebracht hat. Manchmal denke ich, es war verlorene Zeit. Andererseits gehören in meinem Studiengang die Leute, die vorher schon eine Ausbildung gemacht haben, zu den Besten. Ich glaube, das liegt einfach daran, dass wir motivierter sind.
„Ich habe bis heute das Gefühl, jemandem den Studienplatz geklaut zu haben“
Sophie L., 23, hat sich für den Master an der FU Berlin eingeklagt – und neben dem Studium weitere Jobs zu erledigen.
Neben dem Studium pflege ich meine Mutter. Sie hat eine chronische Krankheit und muss gewickelt werden. Ich fahre regelmäßig ein bis zwei Stunden zu ihr. Das frisst Zeit und Energie. Es ist, als hätte ich ein kleines Kind zu versorgen. Dazu hatte ich zeitweise drei Jobs. Bei der Zulassung zum Master schien das aber alles unwichtig: Meine Bewerbung wurde abgelehnt, mein Schnitt von 1,8 reichte nicht. Ich war erst total geschockt und dann wütend, weil ich auf meine Noten reduziert wurde. Für die FU war ich ein NC (ein „Numerus clausus“ bedeutet, dass die Anzahl der Studierenden für einen Studiengang begrenzt ist, Anm. d. Red.), nicht Sophie, die sich um ihre Mutter kümmert und arbeiten muss, um sich das Studium zu finanzieren.
Meine Eltern haben mir geraten, bei unserer Rechtsschutzversicherung nachzufragen, was sich gegen die Ablehnung machen lässt. So kam ich überhaupt erst auf die Idee, mich einzuklagen. Unsere Versicherung wollte nicht zahlen, aber ich habe es trotzdem gemacht. Das Verfahren endete mit einem Vergleich: Ich bekam meinen Studienplatz, musste aber die Kosten tragen. Die 3.000 Euro hätte ich nie zusammenbekommen, aber glücklicherweise haben meine Eltern das übernommen. Ich hätte auf einem Verfahren bestehen können, aber als der Vergleich bei mir ankam, hatte das Semester schon angefangen, und ich wollte nicht noch mehr Zeit verlieren.
Richtig wohl fühle ich mich mit der Klage nicht. Ich habe bis heute das Gefühl, jemandem den Studienplatz geklaut zu haben. Ein großes Problem sehe ich in den Zulassungsverfahren. Die könnten viel differenzierter entscheiden als nur nach NC. Das ist natürlich mehr Aufwand, aber andere Unis schaffen es ja auch.
Illustrationen: Renke Brandt