Es gibt ein Video bei YouTube, in dem Laura Maaß den Song „Ding“ von Seeed performt. Sie steht im Dunkeln der Bühne, nur ihr Körper ist beleuchtet. Sie wippt unablässig, ihre Hände tanzen in der Luft die Bilder, die der Text erzählt: die gute Laune des Ich-Erzählers, der mit großem Ego, schicken Klamotten und Hut, aber ohne seinen Ehering auf die Pirsch geht.
Laura Maaß dolmetscht nicht nur den Text in Gebärden, sie macht auch den Rhythmus, die Melodie, Instrumente und die Stimmung sichtbar. Sie bewegt Beine und Arme, um die Beats der Trommeln zu verbildlichen. Für die klimpernden Zwischentöne im Intro des Songs schlägt sie mit den Händen auf ein imaginäres Xylofon in der Luft.
Laura Maaß hat lange Musik in Gebärdensprache übersetzt. Sie war auf Tour mit Seeed und Peter Maffay, stand beim Lollapalooza in Berlin auf der Bühne, gebärdete Metal beim Wacken-Festival und Orchestermusik in Babelsberg.
Nicht nur die Liedtexte übersetzte Laura Maaß in Gebärdensprache, auch Tonhöhen, Instrumente, Beats
Über die Jahre entwickelte Maaß eine eigene Technik. Bei hohen Tönen stellt sie sich auf die Zehenspitzen, bei tiefen duckt sie sich in die Knie, je nachdem, wie die Melodie verläuft. Die Füße werden oft zum Schlagzeug, zu dem, was in den Magen fährt. Vor dem Dolmetschen muss sie sich warm machen: Maaß bewegt sich viel. Denn der Text, sagt sie damals in Interviews, der sei wichtig, der gehört dazu, aber Musik ist eben immer noch Musik, sie dolmetsche schließlich nicht die „Tagesschau“.
Diese – ihre – Technik machte Laura Maaß bekannt in der Szene der Musikdolmetscherinnen und Musikdolmetscher. Ihre Karriere nahm schnell Fahrt auf und endete schnell: in einem Shitstorm.
Diese Karriere begann geradlinig und fast ein bisschen kitschig: Als Kind hat Laura Maaß einen besten Freund, Edi. Als er sein Gehör verliert, erfinden die beiden eine Geheimsprache, um sich zu verständigen: Maaß’ Einstieg in die Gebärdensprache. Später studiert sie Gebärdensprachdolmetschen, besteht 2012 die Prüfung zur staatlich geprüften Gebärdensprachdolmetscherin. Im Jahr zuvor übersetzt sie zum ersten Mal ein Musikvideo. Das sieht die Rockband Keimzeit und fragt an, ob Maaß mit auf Tour wolle. Sie wollte. Und hört für Jahre gar nicht mehr auf zu touren.
Anfang 2019 gründet Maaß die Gruppe #DieMitDenHändenTanzen, ein Kollektiv aus hörenden und gehörlosen Musikdolmetschenden. Fast ein Jahr sind sie im ganzen Land unterwegs.
An einem Abend im September 2019 steht Maaß mit Kolleginnen im grünen Scheinwerferlicht des SO36 in Berlin-Kreuzberg. Sie übersetzen die Punkband Metzer 58, als mehrere Personen die Bühne stürmen. Sie stellen sich an den Bühnenrand und recken Schilder in die Luft.
„Hat jemand uns gefragt, wie wir Musik verstehen wollen?“
„Wir wollen keine Vermarktung unserer Muttersprache!“
„Weg mit postkolonialistischem Verhalten,
Gebärdensprache ist unsere Muttersprache!“
Sie nennen sich #DeafPerformanceNow, eine Aktionsgruppe von Gehörlosen, die, wie sie auf ihrer Website schreiben, „die Schieflage rund um das ‚inklusive Musikdolmetschen‘“ stört. Sie wollen, dass Laura Maaß und andere hörende Dolmetschende von den Bühnen verschwinden. Weil sie es falsch finden, dass Hörende Musik für Gehörlose übersetzen.
Warum, kann man heute nur auf ihrer Website nachlesen, die Gruppe ist nicht mehr aktiv. Doch Elisabeth Kaufmann, die sich als Vizepräsidentin des Deutschen Gehörlosen-Bunds für die Rechte von Gehörlosen in der Kultur einsetzt, erklärt die Kritik in einem Videotelefonat.
Einmal, sagt Kaufmann, sei da die kulturelle Aneignung. Gebärdensprache habe lange als minderwertige Sprache gegolten. Erst seit 2002 ist sie mit Inkrafttreten des Behindertengleichstellungsgesetzes offiziell als eigenständige Sprache anerkannt. Dabei sind laut Gehörlosen-Bund mindestens 80.000 Menschen in Deutschland auf Gebärdensprache angewiesen. In Schulen sei es zeitweise verboten gewesen, zu gebärden, erzählt Kaufmann. Und plötzlich stünden dann Hörende auf der Bühne, gebärden im Rampenlicht und bekommen dafür Applaus, Ruhm und Honorare.
Für viele Gehörlose sei ein anderes Problem noch entscheidender, sagt Kaufmann: die Bevormundung. „Lange wurde Musik als etwas gedacht, das nur Hörenden zusteht.“ Mit der Zeit wurde aus dem Nischenthema Inklusion eine gesellschaftliche Aufgabe. So wuchs die Idee, dass zu richtiger Inklusion gehöre, dass Gehörlose Musik verstehen. Kurzerhand hätten Veranstalter hörende Musikdolmetschende auf die Bühnen gestellt, um auf ihrer To-do-Liste einen Haken hinter Inklusion machen zu können.
„Dabei haben Gehörlose schon vorher Musik genossen, aber eben anders: auf ihre Art“, sagt Kaufmann. In Clubs beispielsweise sei die Musik oft so laut, dass sie als Gehörlose die Vibration des Bodens spüren könne. Auch Musikvideos sind Produkte des Zeitgeistes und der Popkultur, ob nun mit Ton oder ohne. Doch plötzlich herrschte eine Norm, wie Gehörlose Musik verstehen sollten. Und diese Norm orientierte sich nur an Hörenden, sagt Kaufmann. „Uns wurde gesagt, wie wir zu inkludieren seien.“
„Viele Gehörlose verstehen hörende Musikdolmetscher gar nicht“, sagt Elisabeth Kaufmann vom Deutschen Gehörlosen-Bund
Laura Maaß äußert sich nicht mehr zu solchen Vorwürfen, sie lässt mehrere Anfragen unbeantwortet. In Interviews sagte sie damals, sie habe Leute im Publikum mitgebärden gesehen. Was einem Mitsingen gleichkäme und dafür spräche, dass verstanden wurde, was Maaß übersetzt hat. Sie erzählte auch, die Leute seien nach Konzerten zu ihr gekommen und begeistert gewesen. Man könnte es angesichts solcher Erfahrungen genau andersherum formulieren als Kaufmann: Hörende, die Musik dolmetschen, nötigen Gehörlosen keine Idee von Musik auf. Sondern verschaffen Gehörlosen Zugänge zu dem Musikerlebnis, das sie als Hörende haben. Sie inkludieren also.
So eine Vorstellung könne man nur als Hörender haben, findet Kaufmann. Sie sei bevormundend: Viele sind von Geburt an gehörlos, haben nie gehört, wie eine Trompete klingt oder eine Gitarrensaite schwingt. Was bringt es ihnen, wenn Laura Maaß mit den Fingern die Trompeten von Seeed imitiert? Wenn sie Zwischentöne übersetzt für ein Publikum, das gar nicht weiß, dass ein Ton oder Instrument hoch, tief, dumpf, schrill, weich oder hart klingen kann? „Viele Gehörlose verstehen hörende Musikdolmetscher gar nicht“, sagt Kaufmann.
Dieser Text ist im fluter Nr. 90 „Barrieren“ erschienen
Sie kennt das von eigenen Konzertbesuchen. Für sie als Gehörlose sei Musik Text auf Rhythmus. Kaufmann klopft mit dem Finger im Takt auf den Handrücken, wie ein Metronom. „Das könnten gehörlose Dolmetscherinnen genauso übersetzen: Sie sprechen vorher mit der Band, lernen den Text auswendig und bringen die Emotionen dann durch Gestik rüber.“
Für den Deutschen Gehörlosen-Bund arbeitet Kaufmann daran, dass auf deutschen Bühnen mehr gehörlose Dolmetscher oder zumindest Tandems aus hörenden und gehörlosen Dolmetschenden stehen. #DieMitDenHändenTanzen haben sich nach dem Protest von #DeafPerformanceNow zurückgezogen. In den Sozialen Medien brach ein Shitstorm gegen Maaß und ihre Kolleginnen los, beide Gruppen erklärten ihre Version der Geschichte. 2020 löste sich #DieMitDenHändenTanzen auf. Laura Maaß will keine Musik mehr dolmetschen.
Eine ehemalige Kollegin von ihr geht ans Telefon. Für sie als hörende Dolmetscherin habe sich viel geändert, erzählt sie. Wenn nach einer Rede, die sie dolmetscht, Musik läuft oder ein Chor singt, lehne sie es mittlerweile ab, die Musik zu dolmetschen. Sie gehe dann vorsichtshalber von der Bühne.