Thema – Gender

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Männergrippe

In der Medizin sind Männer die Norm. Bedeutet für Frauen: Fehldiagnosen, falsche Medikation und womöglich höhere Sterblichkeitsraten

Gender Health Gap

Medizin ist eine Männerdomäne. Die Hälfte aller 2018 und 2019 neu zugelassenen Arzneimittel wurde an vorrangig männlichen Versuchsgruppen getestet. Auch bei Versuchen an Labormäusen werden wesentlich mehr männliche Mäuse eingesetzt – selbst bei Studien zu Krankheiten, die hauptsächlich Frauen betreffen.

Dabei haben Mäuseweibchen einen Hormonzyklus wie Frauen, sie sind also wichtige Probandinnen, um die Verträglichkeit eines Medikaments zu testen. Interessanterweise wird der Überschuss männlicher Labormäuse mit ebendiesen Hormonen begründet: Angeblich machen sie die Testergebnisse unzuverlässiger. Studien zeigen, dass das nicht stimmt. Dabei haben Frauen und Männer unterschiedliche Hormonhaushalte, Fett-, Muskel- und Knochenmasse, der Stoffwechsel und das Herz-Kreislauf-System arbeiten verschieden. Krankheiten machen sich also unterschiedlich bemerkbar und müssen, so die Argumentation der Gendermediziner*innen, anders behandelt werden.

Ob Frauen einen Herzinfarkt überleben, hängt wesentlich davon ab, ob sie von Frauen behandelt werden

Seit 2004 folgt das deutsche Gesetz dieser Natur: In den klinischen Prüfungen zur Zulassung eines Wirkstoffes müssen seitdem auch geschlechtsspezifische Unterschiede untersucht und veröffentlicht werden. Und natürlich gibt es Medikamente, die explizit für Frauen entwickelt werden (beispielsweise der Wirkstoff Romosozumab gegen Knochenschwund). Forderungen wie eine 50:50-Geschlechterquote für Proband*innen halten in der Pharmabranche deshalb viele für überflüssig. Entscheidend sei nicht, dass genauso viele Frauen wie Männer getestet würden, schreibt beispielsweise der Verband der forschenden Pharma-Unternehmen in Deutschland, sondern dass der Frauenanteil statistisch ausreiche, um relevante Unterschiede zwischen den Geschlechtern zu entdecken.

Dass sich die Medizin so lange am Mann orientiert hat, hat aber zumindest dafür gesorgt, dass Frauen nicht sicher sein können, dass sie auch als Frau behandelt werden. Das zeigen diese alltäglichen Beispiele:

Schlafmittel

Das Schlafmittel Zolpidem wurde in den USA lange pauschal mit zehn Milligramm dosiert. Was dabei nicht bekannt war: Das Medikament wirkt bei Frauen anders als bei Männern. Frauen bauen den Wirkstoff langsamer ab als Männer. Das Schlafmittel wirkte deshalb nach Einnahme am Abend oft bis in den nächsten Tag. Nach zahlreichen Vorfällen – Wissenschaftler*innen beobachteten etwa, dass Frauen unter Zolpidem häufiger Autounfälle verursachten – wurde das Medikament zwischenzeitlich vom Markt genommen. Heute ist es wieder zugelassen, mit fünf Milligramm für Frauen.

Übrigens: 70 Prozent der fast zwei Millionen Medikamentenabhängigen in Deutschland sind weiblich. Viele Abhängigkeiten werden durch Schicksalsschläge ausgelöst, nach denen Ärztinnen und Ärzte Antidepressiva, Beruhigungs- oder Schlafmittel verschreiben, die nicht rechtzeitig abgesetzt werden. Frauen werden dabei zwei- bis dreimal so häufig Psychopharmaka verschrieben wie Männern.

 
Gender Health Gap
Augenöffnend: Langsam erkennt auch die Pharmazie, dass Männer keine Patientinnen sind

ADHS

Die „Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung“, kurz ADHS, gilt als eine der häufigsten psychiatrischen Erkrankungen bei Kindern und Jugendlichen. Die meisten denken bei der Störung an den zappelnden Jungen in der ersten Reihe, der sich nicht auf den Unterricht konzentrieren konnte. Obwohl die Krankheit viel komplexer ist, scheint dieses Klischee auch bei Ärztinnen und Ärzten nachzuwirken: ADHS wird viel häufiger bei Jungs diagnostiziert, in Deutschland etwa viermal häufiger als bei Mädchen.

Ein Gender Health Gap zeigt sich übrigens auch beim Coronavirus: Bei der Produktion von Atemschutzmasken orientieren sich die Hersteller an einem durchschnittlichen Männerkopf. Eine Maske für einen männlichen Normkopf kann bei Frauen viele Lücken lassen. Die können sie aber anscheinend auch besser verkraften: Männer erkranken schwerer und sterben häufiger an SARS-CoV-2.

Neuere Studien deuten darauf hin, dass geschlechtliche Vorurteile ein Grund dafür sein können: Mädchen haben anscheinend nicht seltener ADHS, sondern zeigen einfach andere Symptome. Während Jungs zu stärker sichtbaren Symptomen neigen, tritt die Krankheit bei Mädchen dezenter in Erscheinung, beispielsweise durch innere Unruhe, Vergesslichkeit, ein niedriges Selbstbewusstsein oder starke emotionale Schwankungen. Die geschlechtlichen Vorurteile in der ADHS-Behandlung belegt auch eine Studie aus Schweden, die zeigt, dass bei Mädchen eher ADHS diagnostiziert wird, wenn sie stärkere und sichtbare Anzeichen der Krankheit zeigen.

Bleibt die Krankheit unbehandelt, kann sie zu Schulversagen, Problemen in der Familie oder einer erhöhten Suchtgefahr führen. Wie groß das Problem für Frauen mit ADHS genau ist, müssen Studien erst noch zeigen.

Tumore

Bis ein Gehirntumor erkannt wird, verstreicht häufig wichtige Zeit – für Patienten wie für Patientinnen. Frauen warten aber länger, zeigte 2016 eine Studie der „Brain Tumour Charity“ in Großbritannien. Unter 927 befragten Tumorpatient*innen verstrich für Frauen nicht nur mehr Zeit zwischen erstem Arzttermin und Diagnose, sie mussten die Arztpraxis auch häufiger aufsuchen als männliche Patienten. Gehirntumore scheinen dabei keine Ausnahme zu sein: Eine andere britische Studie zeigte 2015, dass Frauen bei sechs von elf Krebsarten länger auf ihre Diagnose warteten. Was nicht daran lag, dass sie später eine Praxis aufgesucht hatten, sondern vermutlich an unbewussten Vorurteilen des medizinischen Personals: Viele der Frauen bekamen zunächst zu hören, dass ihre Symptome auf eine Depression oder Stress zurückzuführen seien.

Übrigens: Die erste Studie zeigte, dass nicht nur das Geschlecht einen signifikanten Einfluss auf die Ungleichbehandlung zu haben scheint. Sie wies auch nach, dass Patient*innen mit niedrigem Einkommen besonders lange auf ihre Diagnose warten müssen.

Herzinfarkt

Der Herzinfarkt gilt als Männerkrankheit, gehört aber auch bei Frauen zu den häufigsten Todesursachen. Auch hier besteht die Herausforderung für die Medizin darin, dass Frauen seltener die als typisch geltenden Symptome zeigen: Druckschmerz im Brustkorb, Kurzatmigkeit, Bauchschmerzen, Übelkeit, Erbrechen. Selbst wenn sie bei Frauen auftreten, werden sie häufig auf psychische Probleme oder die Wechseljahre zurückgeführt – und zwar vom medizinischen Personal wie auch von den Patientinnen selbst. So vergehen bei einer 65-jährigen Frau im Durchschnitt viereinhalb Stunden, bis sie nach einem Herzinfarkt in der Notaufnahme ist. Ob und mit welchen Folgen sie überlebt, hängt noch dazu davon ab, wer sie behandelt: Eine Studie aus den USA zeigt, dass Frauen, die von einer Ärztin behandelt werden, deutlich häufiger überleben.

Ist der Infarkt überstanden, wird das Risiko kaum kleiner. Die ABC-Therapie (Aspirin, Betablocker, Cholesterinsenker) soll einen erneuten Infarkt vermeiden, der oft unmittelbar nach dem ersten auftritt. Nur ist die ABC-Therapie für Frauen nicht so effektiv: Aspirin schützt gesunde Männer vor einem Infarkt, zeigt bei Frauen aber nur wenig Wirkung. Auf Betablocker reagieren Frauen mit viel stärkeren Nebenwirkungen als Männer. Und cholesterinsenkende Medikamente werden fast ausschließlich an Männern getestet, obwohl sie Frauen mit zunehmendem Alter nötiger haben. Ob die ABC nach einem Herzinfarkt wirken, ist schlichtweg nicht bekannt. Verschrieben werden sie dennoch. Übrigens: Das Risiko, an einer Herzkrankheit zu sterben, ist für Frauen in Deutschland höher als für Männer.

Fotos: Jan Q. Maschinski

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