Nicht so gern über Gefühle zu reden – das gilt manchen als typisch männliche Eigenschaft. Frauen hingegen, so die landläufige Meinung, fällt es leichter, ihre Gedanken und Empfindungen in verständliche Worte zu verpacken. Kritiker halten nichts davon, solch vermeintliche Unterschiede zwischen den Geschlechtern biologisch zu erklären. Zu lange führten Männer absurde biologische Gründe wie etwa eine höhere männliche Intelligenz ins Feld, um ihre Vorherrschaft gegenüber Frauen zu rechtfertigen.
Heute ist es Common Sense, dass die Differenzierung in Geschlechter nicht auf die Biologie reduziert werden kann. Dennoch gibt es biologische Unterschiede zwischen Mann und Frau – und das sind keineswegs nur so sichtbare Dinge wie Körpergröße, Geschlechtsorgane, weiches oder festes Bindegewebe oder eine unterschiedlich stark ausgeprägte Körperbehaarung.
Da sind zum Beispiel die Augen: Männer sind von der Rot-Grün-Sehschwäche, bei der die zwei Farben nur schlecht voneinander unterschieden werden können, viel häufiger betroffen als Frauen. Etwa jeder zehnte Mann leidet daran – aber nur eine von 100 Frauen. Das liegt daran, dass das für die angeborene Sehschwäche verantwortliche Gen auf dem X-Chromosom liegt. Frauen haben zwei davon, sodass die defekte Variante kompensiert werden kann. Männer hingegen haben kein zweites X-, sondern stattdessen ein Y-Chromosom – und das kann den Sehfehler nicht ausgleichen. Aus demselben Grund haben fast nur Männer die sogenannte Bluterkrankheit, bei der die Blutgerinnung gestört ist. „Aus der biologischen Perspektive bietet die Zugehörigkeit zum weiblichen Geschlecht einfach eine Art Schutzschirm“, schreibt die Psychologin Susan Pinker in ihrem Buch „Das Geschlechterparadox: Über begabte Mädchen, schwierige Jungs und den wahren Unterschied zwischen Männern und Frauen“.
Die „Fragilität der Männer“
Ein weiterer biologischer Unterschied zwischen Männern und Frauen sind die Hormone: Testosteron, das bei Männern in besonders hohen Dosen vorkommt, kann die Aggressivität und Risikofreudigkeit erhöhen. Zudem hängt das Hormon möglicherweise mit einer höheren Anfälligkeit für diverse chronische Krankheiten zusammen. Pinker spricht deshalb von der „Fragilität der Männer“. Die niedrigere Lebenserwartung scheint ihr recht zu geben: Wer in Deutschland als Mann geboren wird, lebt im Schnitt 77,7 Jahre, Frauen dagegen 82,8 Jahre. Die Höhe des Testosteronspiegels im Mutterleib ist vermutlich zudem der Grund dafür, dass die Ringfinger von Männern häufig ein Stückchen länger sind als ihre Zeigefinger – während hier bei Frauen meist kein Unterschied erkennbar ist.
Genetische Ursachen wiederum lassen sich für Legasthenie ausmachen. Der Pädagogischen Hochschule Heidelberg zufolge haben drei- bis viermal so viele Jungen wie Mädchen die Lese-Rechtschreib-Schwäche. Eine Erklärung dafür lieferte die Neurowissenschaftlerin Sandra Witelson bereits in den 90er-Jahren. Das weibliche Gehirn sei zwar proportional etwas kleiner als das männliche – dafür aber für sprachliche Prozesse stärker vernetzt. Auch Psychologin Pinker spricht von einer „allgemeinen weiblichen Überlegenheit in der Sprachflüssigkeit und Rechtschreibung“. Das männliche Gehirn sei schlicht „weniger vielseitig als das weibliche“. Dafür hätten Männer ein besseres räumliches Vorstellungsvermögen, sagen manche Wissenschaftler.
Cordelia Fine wehrt sich gegen solch pauschale Feststellungen. Mit ihrem Buch „Die Geschlechterlüge: Die Macht der Vorurteile über Frau und Mann“ führt die kanadisch-britische Psychologin und Neurowissenschaftlerin einen argumentativen Feldzug gegen Autoren, die biologische Gründe für Verhaltensunterschiede ausmachen. Die wissenschaftlichen Ergebnisse seien in vielen Fällen nicht korrekt interpretiert worden, schreibt Fine. Es seien eher Umwelteinflüsse oder Lernprozesse, die das eigene Denken und Verhalten beeinflussen.
Dabei ist durchaus denkbar, dass zum Beispiel die Sozialisation eines Menschen biologische Folgen haben kann. Die Epigenetik geht davon aus, dass chemische Veränderungen am Erbgut – sogenannte epigenetische Marker – vererbt werden können. Die Lebensweise der Großeltern und Eltern und ihre besonderen Eigenschaften könnten Einfluss auf den Organismus der Nachkommen haben. Das würde bedeuten, dass ein Mann, dessen männliche Vorfahren über Generationen hinweg ein bestimmtes Muster gelebt haben, erblich in diese Richtung vorbelastet wäre. Klingt plausibel, doch belastbare Forschungsergebnisse gibt es dazu bislang kaum.
Fotos: Stacy Kranitz, Ilana Panich-Linsman