Die Luft ist schwer vom süß beißenden Kotgeruch. Beim Eintreten beschlagen die Schutzbrillen. Graugelbe, piepende Flaumbüschel wogen in der Halle, so weit das Auge reicht. Es sind 5.000, vielleicht 6.000 Tiere, ihre genaue Zahl ist schwer zu schätzen. Stefan, 28, der die Gruppe zu dieser Anlage in einem Thüringer Gewerbegebiet gelotst hat und nicht mit richtigem Namen genannt werden möchte, verteilt Mundschutz-Masken. Achim Stößer lässt den Blick über den Boden wandern. „Da ist wieder ein totes“, sagt er. „Okay“, sagt Stefan und packt die Kamera aus dem Rucksack. „Ich werde das mal filmen.“ Der Futterautomat, der alle paar Minuten Nachschub in die kleinen Kübel pumpt, rattert wie ein Maschinengewehr. Auch jetzt, um kurz nach ein Uhr in der Nacht, ist die Halle taghell beleuchtet, damit die Tiere rund um die Uhr fressen und dadurch schneller wachsen. Nach 34 Tagen sollen die Masthühner schlachtreif sein, viele verenden schon vorher. Wir schreiten die Halle ab, die von den Futterstationen in acht lange Bahnen geschnitten wird. Die Küken stieben vor uns auseinander, nur die Kadaver bleiben alle paar Meter liegen. Einige Küken stolpern beim Weglaufen über ihre toten Artgenossen.
Achim Stößer, 47, hat die Tierrechtsinitiative Maqi gegründet, die gegen die „Diskriminierung aufgrund der Zugehörigkeit zu einer Spezies“ und für die „Etablierung einer veganen Gesellschaft“ kämpft. Über ein Formular auf der Website kann man anonym „Qual- und Tötungsanlagen“ melden, inklusive Adresse und Wegbeschreibung. Stößer und seine Mitkämpfer kommen dann nachts vorbei und sehen sich um. Stößer will aufklären, dokumentieren, wie unsere Gesellschaft unzählige Lebewesen entrechtet und leiden lässt. Besonders schwache Tiere nehmen die Aktivisten mit, verstauen sie in Transportboxen und bringen sie zu einem Gnadenhof, wo sie bis zu ihrem natürlichen Tod artgerecht leben können. Einmal haben die Aktivisten in einer einzigen Nacht rund 70 Tiere rausgeholt. Das Gesetz bezeichnet es als Diebstahl, zumindest als Hausfriedensbruch. Stößer nennt es einfach Befreiung.
In unserem Recht haben Tiere einen widersprüchlichen Status. Im Bürgerlichen Gesetzbuch steht, dass Tiere keine Sachen sind, man sie jedoch rechtlich wie Sachen zu behandeln hat. Der Schutz der Tiere steht seit 2002 sogar als Staatsziel im Grundgesetz, und die Gerichte fällen mitunter drastische Urteile: In Bünde in Ostwestfalen wurde im vergangenen Jahr ein Mann zu zwölf Monaten Gefängnis verurteilt, weil er seinem Schäferhund die Schnauze mit Folie abgeklebt hatte und das Tier ersticken ließ. Paragraf 17 des Tierschutzgesetzes sieht Geld- und Freiheitsstrafen für denjenigen vor, der „ein Wirbeltier ohne vernünftigen Grund tötet“ oder quält. Ein vernünftiger Grund ist zum Beispiel die Herstellung billiger Schnitzel. Die Gesetzestexte lesen sich, als hätte sie jemand geschrieben, der Tiere zwar ganz gerne isst, aber niemals mitansehen könnte, wie eines von ihnen stirbt.
Was gebührt dem Tier? So recht scheint sich unsere Gesellschaft nicht entscheiden zu können. Aber auffallend ist, dass sich immer mehr Menschen Gedanken darüber machen, ob es moralisch verantwortbar ist, Tiere massenweise auf brutalste Art zu vernichten, damit an jedem Tag der Woche Fleisch auf dem Tisch steht. In den Buchläden wird derzeit gern nach Büchern gegriffen, in denen die Autoren schreiben, wie wohl sie sich ohne Fleischkonsum fühlen. Vegetarismus wird nicht mehr als Spleen Körner mümmelnder Ökos gesehen, sondern als moderner Lebensstil.
Es ist 2.28 Uhr. Stößers weißer Polo ruckelt einen Wirtschaftsweg voller Schlaglöcher hinauf. Auf dem Beifahrersitz kündigt Stefan an, die nächste Anlage sei „super geeignet“ für Tierbefreiungen. „Etwas abgelegen und sehr gut zugänglich.“ Stößer nickt. Wir parken an einem Seitenpfad und holen uns nasse Füße beim Weg über die Wiese. Nach einigen Minuten Marsch sehen wir in der Dunkelheit die leuchtenden Fenster der Halle. Unten an der Mauer sind Holzklappen, die sich öffnen lassen, damit die Legehennen auf einen wenige Meter schmalen Erdstreifen hinaus können. Freilandhaltung nennt sich diese Konstruktion. Achim Stößer hebt eine der Klappen. Stefan bückt sich, steigt als erster durch die Luke und lässt sich den Rucksack nachreichen. Drinnen in dem Korridor gackern Hunderte Legehennen. Wir gehen durch, Stößer macht Fotos, Stefan filmt.
Dann bricht plötzlich Panik aus, unzählige Hennen quellen aus dem halboffenen, vergitterten Verschlag, in dem sich ihre Nester und Sitzstangen befinden, peitschen mit den Flügeln. Die Luft trübt sich gelb vor Staub. Federreste landen auf den Jackenärmeln und dem Mundschutz. „Durch die Überzüchtung sind die Hühner extrem stressanfällig“, erklärt Stefan. Ein falscher Flügelschlag und schon geraten sie in Aufregung. Während Achim Stößer Fotos von seiner Digitalkamera löscht, um Speicherplatz für neue Aufnahmen zu schaffen, pickt ein Huhn an seinem Schuh, das nicht gerade wie eine glückliche Freilandhenne aussieht. Das hintere Drittel des Vogels ist nackt, die Haut um die Kloake herum pulsiert rot. Zum Schluss, nach etwa einem Jahr Legeleben, sind die Hennen oft vollkommen federlos und legen kaum noch Eier. Dann werden sie getötet und durch neue ersetzt, berichtet Stößer. Wenn sie überhaupt so lange durchhalten. Auch hier liegen tote Tiere auf den Gitterböden zwischen den Sitzstangen. Zwei Hühner versuchen Federn aus einem der Kadaver zu reißen.
Wer einen Willen zum Leben hat, sollte nicht von anderen Lebewesen getötet werden
Szenen wie diese haben Stößer zum radikalen Veganer werden lassen. Auf Fleisch zu verzichten, reiche nicht. Wer Tierrechte ernst nehme, der dürfe auch keine Eier und keinen Käse essen, denn auch dafür leiden und sterben Tiere, schreibt er in einem Artikel, dem er die Überschrift „Vegetarier sind Mörder“ gegeben hat. Der Titel ist eine Provokation, selbst in der Tierrechtsszene. Die Schriftstellerin Karen Duve hat Stößer in ihrem Selbstversuchsbestseller „Anständig essen“ gerade als einen der strengsten Veganer Deutschlands beschrieben, dessen Härte selbst sie erzittern ließ. Stößer argumentiert mit leiser, unaufgeregter Stimme, aber umso rigoroser im Inhalt. Es gibt kein Recht des Menschen an anderen Tieren. Das ist der Grundsatz, auf den er besteht. Egal was man dagegen einzuwenden versucht. Dass andere Tiere doch auch Fleisch essen? „Ist keine Rechtfertigung dafür, dass wir uns genauso verhalten.“ Dass Millionen Hühner und Schweine ihre Existenz überhaupt erst der Massentierhaltung zu verdanken haben? „Ein hinfälliges Argument. Jemand, der nicht existiert, hätte auch kein Lebensinteresse.“ Und wenn man wenigstens die Haltung verbessern würde, den Hühnern mehr Auslauf gäbe als diesen einen schmalen Streifen neben dem Stall? „Als Tierrechtler wollen wir die Ausbeutung nicht reformieren, sondern ganz abschaffen“, sagt Stößer. „Sklaverei wird nicht ethisch vertretbarer, indem man die Bedingungen der Sklaven verbessert.“
Es sind solche Sätze, bei denen man schlucken muss. Wenn Stößer Tierhaltung und Sklaverei in einem Atemzug nennt. Oder wenn er sagt, dass er persönlich genauso wenig mit Rassisten wie mit Nichtveganern befreundet sein wolle und zwischen beiden keinen Unterschied erkennen könne: „Die Hautfarbe ist ethisch genauso irrelevant wie die Anzahl der Beine.“ Denn was sollte begründen, dass Menschen ihrerseits vor Eingriffen in ihre Freiheit und ihr Leben geschützt sind, aber über das Leben anderer Lebewesen frei verfügen dürfen? Die Fähigkeit zu eigenständigen Entscheidungen? Ihre Intelligenz? In Stößers Augen sind das willkürliche Kriterien, die man letztlich auch gegen den Menschen wenden kann: Wenn ein erwachsener Schimpanse vernünftiger handle als ein Dreijähriger, müsste man dem Kind dann nicht weniger Rechte zusprechen? Tierrechtler schlagen daher vor, nicht die Vernunft, sondern die Empfindungsfähigkeit eines Lebewesens zum Ausgangspunkt der Ethik zu machen. Wer Schmerz spüren kann, sollte allein deswegen ein Recht auf Leidensfreiheit und auf körperliche und psychische Unversehrtheit haben. Wer zu Todesangst in der Lage ist, einen Willen zum Leben zeigt, hat ein Recht darauf, dass andere Wesen ihm dieses nicht einfach rauben. Zumindest einsichtige Wesen sollten das nicht tun.
Außerhalb der Voliere entdeckt Stefan eine Henne, die unter dem Bodengitter umherirrt. „Guck mal, die dürfte da gar nicht sein“, sagt er. „Die kommt da unten überhaupt nicht an Wasser oder Futter. Sie würde verdursten.“ Stefan entscheidet spontan, die Henne mitzunehmen nach Hause, in seine Veganer-WG in einem hessischen Dorf. Fünf menschliche und an die 30 nichtmenschliche Bewohner leben auf dem kleinen Hof, darunter neun Hühner. Für eines wäre noch Platz. „Hast du etwas dabei, um sie zu transportieren?“, fragt Stößer. „Ich halt sie einfach fest während der Fahrt.“ Stößer nickt, nimmt eine Schippe, die an der Wand lehnt, und versucht das Tier mit dem Stiel unter den Gittern und Förderbändern langsam wegzutreiben. Stefan hebt es auf den Arm, streichelt das zerpflückte Gefieder. Das Huhn gackert in sich hinein. „Ist gut, ist gut.“