Am Bahnhof von Morón, einer Stadt mit 60.000 Einwohnern, fast genau in der Mitte Kubas gelegen, fühlt man sich wie an einem Filmset. Eines Films, der irgendwann vor etlichen Jahrzehnten spielen muss, vielleicht Mitte des 20. Jahrhunderts. Das Bahnhofsgebäude, ein weißer Bau im spanischen Kolonialstil mit braunem Fachwerk, wurde 1924 gebaut. Die Schalter befinden sich in Holzkästen mit blindem Glas, auf einer Tafel steht mit Kreide geschrieben, dass der Zug aus Santa Clara um drei Uhr früh eintreffen wird. Der an der Decke befestigte Fernseher, der plärrend ein Baseballspiel überträgt, ist das einzige halbwegs moderne Gerät hier. Vor dem Bahnhof fahren ein paar russische Ladas und US-amerikanische Buicks und Chevrolets aus den 50er-Jahren vorbei, hauptsächlich aber Fahrradrikschas und Kutschen. Richtige Kutschen mit Bock und Dach. Doch die altmodischen Kutschen sind Boten der cambios, der Veränderungen, die das ganze Land zurzeit in Atem halten und vielleicht in die Zukunft oder, besser gesagt, in die Gegenwart bringen könnten. Die Frage ist nur: Zu welchem Preis?
Historischer Besuch von Obama und den Rolling Stones
Wenn Kubaner von den cambios sprechen, dann meinen sie damit: Das sozialistisch regierte und weitgehend abgeschottete Kuba öffnet sich zunehmend – für Besucher und fürs Geschäft. Das Land braucht dringend Devisen. Seit die Sowjetunion zusammengebrochen ist und Venezuela – wegen des Ölpreisverfalls und der auch daraus entstandenen Wirtschaftskrise selbst eher knapp bei Kasse – nicht mehr von Hugo Chávez regiert wird, fehlen viele ideologisch nahe Handelspartner. Gleichzeitig entspannt sich die schwierige Beziehung zum Erzfeind USA. Gerade hat Barack Obama Kuba besucht, als erster amtierender US-Präsident seit 1928. Die Rolling Stones haben zum allerersten Mal ein Konzert auf der Insel gespielt, und durch die Altstadt von Havanna schieben sich so viele Touristen wie durch Rom.
Geschäfte haben die Leute schon vorher gemacht, jetzt ist es auch legal.
Doch auch im eher verschlafenen Morón hat sich das Leben radikal verändert, nachdem Präsident Raúl Castro 2010 Reformen vorstellte, die es den Kubanern erlauben, selbstständig zu arbeiten sowie ihre Immobilien zu verkaufen, die früher nur getauscht werden durften. Davor waren alle Betriebe staatlich, vom Schuhe Putzen bis zu Managerposten in Luxushotels wurden sämtliche Jobs von der Regierung vergeben und kontrolliert. Vor allem im Dienstleistungssektor ist die Privatisierung schnell vorangeschritten. Geschäfte haben die Leute schon vorher gemacht, jetzt ist es auch legal.
„Im Grunde hat Castro mit den Reformen den Schwarzmarkt legalisiert, der seit dem Ende der Sowjetunion in Kuba entstanden ist“, sagt Michael Zeuske. Er ist Professor für iberische und lateinamerikanische Geschichte an der Uni Köln und schreibt gerade am letzten Kapitel seiner „Kleinen Geschichte Kubas“. Bald nach der kubanischen Revolution lebte er in den 60er-Jahren mit seinen Eltern in dem Land und hat es seitdem immer wieder besucht. „Das Straßenbild ist nun überall ein ganz anderes. Früher konnte man kaum einen Kaffee bekommen, jetzt gehen sogar Kubaner ins Restaurant.“
Das stimmt auch für Morón. Um sich einen Restaurantbesuch leisten zu können, sind dort nun viele Einwohner mit Fahrradrikschas und Kutschen unterwegs und bringen Fahrgäste von A nach B. , sagt Reinier*, der auf seinem Kutschbock gerade Pause macht. Der 23-jährige Reinier arbeitet offiziell als Schachlehrer in einer staatlichen Einrichtung für Jugendliche. Dort verdient er 480 kubanische Pesos im Monat, umgerechnet knapp 20 Euro, was etwa dem Durchschnittslohn entspricht. Damit kommt man auch in Kuba nicht weit. Jeder Artikel, der über die Grundversorgung hinausgeht, kostet ähnlich viel und oft sogar erheblich mehr als in Deutschland.
Eigentlich dürfen Leute, die nicht offiziell im Tourismus arbeiten, nicht mit Ausländern verkehren.
Deswegen geht Reinier nicht mehr zu seinem eigentlichen Job, sondern bezahlt einen Strohmann, der das für ihn erledigt. Dafür jemanden zu finden ist nicht schwer. Die Arbeitslosigkeit ist laut Experten gerade unter Jugendlichen weit höher als die offiziellen rund sieben Prozent. Dabei sind die meisten relativ gut ausgebildet. „Auf der Kutsche verdiene ich den Monatslohn in einer Woche, wenn es schlecht läuft“, sagt Reinier. Es läuft gut, wenn er einen Touristen fahren kann. Denn die zahlen nicht in kubanischen Pesos, sondern in der begehrten zweiten Währung, dem Peso Convertible. „Hartes Geld“, sagt Reinier. Auf Kuba kann man viele Dinge nur mit der „Touristen-Währung“ kaufen.
Eigentlich dürfen Leute wie Reinier, die nicht offiziell im Tourismus arbeiten, nicht mit Ausländern verkehren. Wer dabei erwischt wird und auf schlecht gelaunte und unbestechliche Polizisten trifft, kann dafür ins Gefängnis wandern. Dennoch versucht jeder, irgendwie mit den Touristen ins Geschäft zu kommen. Angeboten wird praktisch alles, hauptsächlich aber Zigarren und Rum. Wenn ein Tourist ein Taxi sucht, kann es passieren, dass ein vollbesetztes Privatauto anhält und die Familie des Fahrers aussteigt, um Platz zu machen.
Hoffnung und Angst
Es gibt viele, die sich freuen, dass sie nun mehr Geld verdienen können. Einigen macht die Öffnung aber auch Angst. „Wenn es in Kuba wirklich einen freien Markt gibt, dann bleibt für die Kubaner schnell nichts mehr übrig“, sagt Ricardo. Der 22-Jährige kommt aus Havanna, studiert aber in Hamburg. Auch Ricardos Familie macht in Tourismus, es läuft so gut, dass sie ihn fürs Studium nach Deutschland schicken konnte. Bis vor kurzem war es für Kubaner noch praktisch unmöglich, legal das Land zu verlassen. Eingeschrieben hat Ricardo sich für BWL. „Zu Hause kennt sich damit niemand aus, die würden von den Amerikanern sofort wieder ausgenommen wie vor der Revolution“, sagt er.
„Wenn die Menschen mehr Geld und Besitz haben, haben sie auch mehr zu verlieren.“
Für Professor Zeuske liegt genau in dieser Angst das Kalkül der Regierung bei der vorsichtigen Öffnung. Immer noch lägen drei Viertel der Wirtschaft in ihren Händen. Wichtiger als Wachstum sei für sie Kontrolle, und dabei können auch die Reformen helfen. Der Staat habe eine Art Wette abgeschlossen, sagt er. „Wenn die Menschen mehr Geld und Besitz haben, haben sie auch mehr zu verlieren. Und der Staat kann sie beschützen.“ Gerade die Eigentumsfrage sei dabei entscheidend, denn viel Grund und Boden wurde den geflüchteten Kubanern abgenommen und an die Eliten der Revolution neu verteilt. Das Land wolle nun keiner wieder hergeben.
Der Kutscher Reinier erhofft sich von den cambios vor allem einen neuen Untersatz. „In Panama haben sie Fahrradrikschas mit Elektromotor. So eine würde ich gern kaufen, wenn mein Pferd es nicht mehr macht.“
* Kritik am Staat kann Kubaner in Bedrängnis bringen. Deswegen werden nur die Vornamen genannt.