Ob Bassel Khartabil noch lebt, weiß vermutlich nicht einmal seine Frau. Seit mehr als drei Jahren ist der syrische Aktivist inhaftiert, aber seit seiner Verlegung aus dem Adra-Gefängnis nahe Damaskus an einen unbekannten Ort im Oktober 2015 fehlt von ihm jede Spur. Aus dem syrischen Häftlingsregister soll er gelöscht worden sein, Gerüchte von seiner Hinrichtung machten die Runde. Khartabil wurde ein Jahr nach Beginn des Arabischen Frühlings vom syrischen Militärgeheimdienst verhaftet, „Gefährdung des Staates“ lautete der Vorwurf. Dass seine Arbeit von der Regierung um Baschar al-Assad ins Visier genommen wurde, verwundert nicht.
Sein größtes Projekt hat aber mit einer historischen Stätte zu tun, die spätestens seit vergangenem Jahr weltbekannt ist: Palmyra. In der 2000 Jahre alten Ruinenstadt, UNESCO-Weltkulturerbe, sprengten Daesh-Kämpfer zahlreiche antike Bauwerke. Schon zuvor hatte sich der 34-jährige Khartabil besonders für den Erhalt wichtiger archäologischer Orte eingesetzt. Mit Freunden gründete er das Palmyra-Projekt, an dem er auch aus dem Gefängnis heraus weiterarbeiten wollte. Ziel des Online-Portals ist es, antike Stätten wie etwa den Baaltempel von Palmyra zu rekonstruieren. Dazu sammelt die Community 3-D-Modelle von historischen Gebäuden und trägt archäologisches und historisches Wissen über die Orte zusammen. Mit geeigneten 3-D-Druckern kann so jeder die Antike ausdrucken und wieder auferstehen lassen.Denn Bassel Khartabil ist Softwareentwickler und Ikone der Creative-Commons-Bewegung, die sich für ein freies Internet und die ungehinderte Verbreitung von Informationen einsetzt. Bis zum Beginn des syrischen Bürgerkrieges war er zudem leitender Entwickler bei dem von ihm mitgegründeten Hackerspace AikiLab in Damaskus. Er organisierte Treffen der Entwickler-Community und arbeitete an verschiedenen Softwareprojekten mit, die auf Open Source setzen, also einen offenen Quellcode, der von jeder Person eingesehen und verbessert werden kann. Als Übersetzer des Browsers Firefox ins Arabische und Editor in der arabischsprachigen Wikipedia sorgte er dafür, dass sich in Syrien mehr und mehr Bürger von der oft sehr teuren Software einiger Firmen lösten und unabhängige Programme benutzten. Das kam auch der Opposition zugute, die sich in sozialen Medien und anderen Plattformen online organisiert.
Für freie Informationen und das Aufbrechen von Hierarchien
Khartabils Inhaftierung lässt erkennen, wie sehr diktatorische Regimes ein freies und kreatives Internet als eine Bedrohung wahrnehmen. Bei der Diskussion um die Öffnung von Software und den Zugang zu Wissen geht es zwar oft um Quellcodes und Programmiersprachen, aber immer auch um selbstständiges Denken und selbstbestimmtes Handeln, um freie Informationen und das Aufbrechen von Hierarchien. Wissen ist eng verknüpft mit Macht, an die sich das Assad-Regime seit Jahren klammert. Freie Software und freies Wissen entziehen sich der Kontrolle und Zensur durch Unternehmen und Politik, sie machen das Netz demokratischer und anarchischer.
Deswegen schaltete Syriens Regierung in den letzten Jahren mehrfach den Internetzugang im gesamten Land ab, ließ Hacker die Webseiten der Opposition angreifen und nahm Personen fest, die sich unter anderem auf Facebook kritisch über den syrischen Präsidenten geäußert hatten. Überhaupt hatte Assad erst im Februar 2011 den Zugang zu bestimmten sozialen Netzwerken erlaubt – und nutzte sie sogleich zur Überwachung der Opposition. Letztlich fiel auch Khartabil dem Regime zum Opfer. Auf seinem Twitter-Account verlinkte er in den Wochen vor seiner Festnahme auf YouTube-Videos und Bilder, die Opfer des Konflikts in Syrien zeigen, und beschwerte sich über andere Aktivisten, die das Land aus Angst vor Repressalien verließen. Seit März 2012 ist Khartabils Twitter-Kanal still.
Sie alle warten nun auf ein Lebenszeichen von Khartabil
Für seine Freilassung machten sich neben der Creative-Commons-Community und Organisationen wie Amnesty International und Reporter ohne Grenzen auch die Vereinten Nationen und Mitglieder des Europäischen Parlaments stark. Mit Unterschriftenkampagnen und Briefen versuchten sie, das syrische Regime umzustimmen. Das Engagement der Community führte nach Einschätzung vieler Aktivisten dazu, dass Khartabil aus dem Saydnaya-Militärgefängnis in das Adra-Gefängnis nahe Damaskus zurückverlegt wurde. Dort, wo er vorher schon einmal eingesessen hatte, durfte er auch wieder Besuch empfangen und mit Freunden kommunizierte. Aus der Haft heraus heiratete er Noura Ghazi, eine syrische Menschenrechtsanwältin. Dass er jetzt an einen unbekannten Ort gebracht und womöglich zum Tode verurteilt wurde, konnten weder die Community noch internationale Organisationen verhindern. Sie alle warten nun auf ein Lebenszeichen von Khartabil.
Wenn Arne Semsrott nicht für fluter.de schreibt, arbeitet er unter anderem für das Informationsportal „Frag den Staat“