Wie kein anderer Gegenstand kehrt die Kreditkarte die allgemeinen stofflichen Wertvorstellungen in ihr Gegenteil um. Eigentlich handelt es sich ja nur um ein kleines Stück von dem Material, das uns im Alltag oft kaum etwas wert ist und das schneller in der gelben Tonne landet, als die Supermarkt-Salami aufgegessen ist. In Form einer Kreditkarte hingegen ist Plastik randvoll aufgeladen mit Bedeutung. Oder treffender gesagt, es ist aufgeladen mit dem Bedeutungsersatz, der im Kapitalismus noch mehr gilt: Geld. So verschafft die Kreditkarte ihrem Träger Status, Macht und die Freiheit, jederzeit und überall zu konsumieren.
So ein kleines Scheibchen PVC. Wenn es die Gestalt einer Kreditkarte annimmt, würde niemandem mehr einfallen, damit den Fußboden auszulegen. Die Idee, Kunststoff zu einem Zahlungsmittel zu machen, kam aus den USA. Begonnen hat das alles sehr klein und exklusiv. Die Diners-Club-Karte wurde bei ihrer Einführung 1950 von gerade mal zwei Dutzend Vertragsunternehmen akzeptiert, allesamt New Yorker Restaurants. Seither hat das Kreditkartengeschäft gewaltige Ausmaße angenommen und ist ein globales geworden. Mehr als 14 Milliarden internationale Kreditkarten sind mittlerweile weltweit im Umlauf, und mit den Karten der großen Anbieter kann an vielen Millionen „Akzeptanzstellen“ auf der ganzen Welt gezahlt werden. Wer eine solche Karte bei sich trägt, erlebt weltweite Teilnahmemöglichkeiten in einer globalen Konsumgesellschaft. Er gehört dazu.
Zahlung, Geldbeschaffung und Kreditierung, das sind die Grundfunktionen der meisten Kreditkarten. Kommen die Karten in Silber oder Gold daher oder tragen sie sie als Platinumkarten in der Premiumvariante prätentiöse Namen wie „Centurion“ oder „Infinite“, können sie noch einiges mehr. Manche davon können scheinbar alles. Diese Premiumkarten, die auch nur sehr wohlhabenden Kunden mit der nötigen Bonität angeboten werden, verschaffen ihren Besitzern viele Privilegien und Annehmlichkeiten: Zimmer-Upgrades in den besten Hotelketten und unbegrenzter Zutritt zu Flughafen-Lounges sowieso. Überhaupt alles, wonach dem Karteninhaber gerade so der Sinn steht. Mit einer solchen Karte hat man zwar nicht den Papst in der Tasche, so aber doch eine kleine Plastikfee, die pausenlos Wünsche erfüllt. Dieser Zustand ist so etwas wie der Omegapunkt einer Kultur, die an die Steigerung des Konsumprinzips stets auch die Hoffnung auf eine Glückssteigerung knüpft. Ganz nebenbei kann das Rüberreichen des glänzenden Kärtchens über den Tresen als eine sehr lässige Zurschaustellung von Elitenzugehörigkeit dienen.
Kreditkartenbesitzer glauben sich wohlhabender, als sie sind
Kritik haben Kreditkarten gleichwohl eher geerntet, wenn es um ihre weniger finanzstarken Nutzer ging. In den USA ist es gängige Praxis, auch den unteren Einkommensklassen unter den Bankkunden ungefragt Kreditkarten zukommen zu lassen – ohne die Kreditwürdigkeit des Empfängers zu überprüfen. Es bestehen nur noch wenig Zweifel daran, dass Kreditkarten Menschen dazu verleiten, weit über ihre Verhältnisse zu leben. So als Kreditkartenbesitzer glauben sie sich leicht mal wohlhabender, als sie real sind – und verschulden sich.
Früher machte es wenigstens noch „ritsch, ratsch“, wenn mit Hilfe des Imprinters die Kreditkartendaten eingelesen wurden. Dieses akustische Warnsignal, dass das Bankguthaben im Abschmelzen begriffen ist, wurde durch die neuen Lesegeräte abgeschafft. Und die Verschleierung des Zahlungsvorgangs geht weiter – im Internet sowieso, aber auch im Supermarkt. Es gibt bereits Funkkarten, die das Bezahlen buchstäblich im Vorbeigehen ermöglichen, da der Datenverkehr über das Nahfunkverfahren NFC abläuft (NFC = Near Field Communication = Nahfeldkommunikation). Von der Frage der Datensicherheit der Kreditkarten, die per Funk abgelesen werden können, ganz zu schweigen.
Da passen zwei Dinge zusammen. Der Universalstoff Plastik, der in jegliche Form gebracht werden kann und deshalb zum großen Möglichmacher der Moderne geworden ist, wird zum Trägermedium eines universalen bargeldlosen Konsums, der immer und überall stattfinden kann und der so gar nichts mehr zu kosten scheint. Man muss wissen, ob man das will. Oder ob man das verführerische Wunderkärtchen nicht doch wie die Salamipackung besser in die gelbe Tonne kloppt.
Nicht erst einmal ist Oliver Geyer der Schrecken in die Glieder gefahren, wenn er seine monatliche Kreditkartenabrechnung in Augenschein nahm. Insofern ist sein Text vielleicht auch ein bisschen als psychologische Verarbeitung zu verstehen.