Der Sohn von Jasmina A. scheint ein fröhliches Kind zu sein. So wirkt der kleine Junge, zwei Jahre alt, zumindest auf die ausgewählten Besucher. Viele Journalisten wollen ihn treffen, das möchte seine Mutter aber nicht. Sie passt auf ihn auf, will keine Bilder von ihm in der Zeitung oder in Fernsehbeiträgen sehen. Um das Wohl des Jungen wird nun vor Gericht verhandelt. Der Zweijährige ist taub, und seine Eltern, beide ebenfalls gehörlos, wurden bundesweit bekannt, weil sie ihm keine Hörprothese einpflanzen lassen möchten. Das hatte ihnen der HNO-Chefarzt des Städtischen Klinikums Braunschweig angeboten.
Das sogenannte Cochlea-Implantat, abgekürzt CI, übernimmt im besten Fall die Funktion des geschädigten Innenohrs. So hätte der Junge eine Chance, etwas zu hören und vielleicht sprechen zu lernen. Die Eltern des Kindes entschieden sich jedoch nach dem Treffen mit dem Mediziner gegen den Eingriff, zu groß erschienen die Risiken. Daraufhin schaltete die Klinik einen Anwalt und der das Jugendamt ein. Und das leitete schließlich den Fall an das Familiengericht Goslar weiter, wo er nun verhandelt wird – und grundsätzliche Fragen aufwirft.
Es geht um das Kindeswohl und damit auch um die Frage, ob es einem gehörlosen Kind schlechter geht als einem hörenden. Jährlich kommen in Deutschland 700 bis 1.000 Kinder taub zur Welt. Sollte dem gehörlosen Jungen laut Gerichtsurteil ein CI eingepflanzt werden müssen, würde das bedeuten, dass sein Wohl ohne Implantat nicht garantiert wäre. Ein Präzedenzfall, der das Leben vieler gehörloser Kinder beeinflussen könnte.
Sollten Mediziner und Staat bestimmen können, was für ein Kind richtig ist? Bislang haben Gerichte nur für eine medizinische Behandlung gegen den Willen der Eltern entschieden, wenn Lebensgefahr drohte. „Es gibt Gesetze in Deutschland, die uns Eltern das Recht geben, für unsere Kinder zu entscheiden“, sagt die Mutter Jasmina A. „Warum dies bei gehörlosen Eltern nicht gilt, verstehen wir nicht.“ Tatsächlich steht im Grundgesetz, dass „Pflege und Erziehung der Kinder das natürliche Recht der Eltern“ sind.
Für viele ist es ein Skandal, dass vor Gericht überhaupt über das, was manche schon als eine „Zwangsimplantation“ bezeichnen, verhandelt wird. Einige der Positionen zeigen aber auch, dass viel davon abhängt, wie Hörende über Nichthörende denken. Der erste Impuls der Hörenden scheint zumindest oft: Warum verwehren die Eltern ihrem Kind diese Operation? Warum lassen sie es als behindertes Kind aufwachsen, anstatt ihm zu helfen?
Für Gehörlose wie Jasmina A. sind solche Vorwürfe schwer zu verstehen. Sie hat sich mit ihrem Mann auch gegen das Implantat entschieden, um ihr Kind zu schützen. Es ist nicht garantiert, dass eine Operation gutes Hören verschafft. Die OP erfolgt in Vollnarkose, es wird eine Vertiefung in den Schädel gefräst, und das Kind muss danach jahrelang zur Nachsorge sowie zum täglichen Sprach- und Hörtraining. In Deutschland leben gut 80.000 Gehörlose, davon ist rund die Hälfte mit einem CI versorgt. Nicht allen hilft das Implantat, das zudem Nebenwirkungen wie Infektionen, Kopfschmerzen und den Verlust des Geschmackssinns haben kann. Schätzungen gehen davon aus, dass nur etwa 30 Prozent der Kinder mit CI ein gutes Sprachverständnis erlangen. Sie können dann ungefähr so gut hören wie ein Schwerhöriger.
Außerdem ist Gehörlosigkeit für Jasmina A. und ihren Mann keine Behinderung. Sie fühlen sich weder krank noch eingeschränkt. „Wir leben in der Gehörlosenkultur und benutzen in der Familie ausschließlich Gebärdensprache“, sagt die Mutter. „Die meisten hörenden Menschen wissen nichts über Gehörlosenkultur und Gebärdensprache. Wie können sie ohne Wissen über die Art, wie wir leben, unsere Entscheidung verstehen?“ Die Unterstützung aus der Gehörlosengemeinschaft sei jedenfalls groß und sie sehr dankbar für „so einen Zusam- menhalt“. Ein Cochlea-Implantat kann in dieser Gemeinschaft durchaus auch einen Identitätskonflikt bedeuten, denn durch die Prothese sind Gehörlose weder komplett Teil der einen Welt noch der anderen.
Deutschland hat sich nach der UN-Behindertenrechtskonvention verpflichtet, die Gebärdensprache als eine gleichberechtigte Sprachform zu achten. Es ist eine eigene Sprache mit einem eigenen Wortschatz. 2010 hatte bereits das Sozialgericht Frankfurt entschieden, dass die Eltern eines gehörlosen Kindes bei Besuch einer Regelschule Anspruch auf einen Gebärdendolmetscher haben und dem Kind nicht ein kostengünstigeres Implantat eingesetzt werden muss. „Ich denke, das Gericht wird für uns entscheiden“, sagt Jasmina A. Ansonsten will sie weiter für ihre Entscheidung kämpfen, notfalls bis zum höchsten Bundesgericht.