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15 Jahre Zweifel

Warum verbrannte der Asylsuchende Oury Jalloh in einer Dessauer Polizeizelle? Ein WDR-Podcast sucht nach Antworten

 

Der Notruf kommt zur Mittagszeit. Es ist der 7. Januar 2005, in der Ausnüchterungszelle des Polizeireviers in Dessau, Sachsen-Anhalt, ist ein Feuer ausgebrochen. Die Streifeneinsatzführerin Beate H. setzt einen Notruf ab. Ein Knistern ist zu hören, das Piepen eines Alarms und die aufgeregte Stimme der Polizistin. Sie ruft einem Kollegen zu, er solle nachfragen, was gebraucht werde. „Ich sehe nichts auf dem Monitor“, sagt sie. Beate H. fordert schließlich Feuerwehr und Rettungswagen an. Als die herbeigerufenen Helfer eintreffen, liegt auf dem Bett von Zelle 5 der verkohlte Körper von Oury Jalloh, 36, einem Asylsuchenden aus Sierra Leone.

Warum starb er? Dieser Frage geht die Journalistin Margot Overath in ihrem fünfteiligen WDR-Podcast „Oury Jalloh und die Toten des Polizeireviers Dessau“ mit fast schon kriminalistischer Akribie nach. Sie spricht mit Kriminaltechnikern, Forensikern, mit Mordermittlern und Brandexperten. Die meinen, dass in Dessau Fehler gemacht wurden, allein schon bei der Tatortbegehung: Der Brandschutt sei mit den Händen durchwühlt, Spuren nicht ausreichend gesichert worden. In der Asservatenkammer tauchte später ein Feuerzeug auf, das in der Zelle gelegen haben soll. Welcher Polizist war wann wo? Anhand von Akten versucht Overath, das zu rekonstruieren. 

Es gibt neben Oury Jalloh zwei weitere Todesfälle in Verbindung mit Dessauer Polizisten

Das mag erst einmal wenig aufregend klingen, zumal „Oury Jalloh und die Toten des Polizeireviers Dessau“ auch noch recht spröde inszeniert ist: Ein männlicher Sprecher und eine weibliche Sprecherin erzählen im Wechsel, dazwischen O-Töne und eine spärliche Instrumentierung. Doch die Detailbesessenheit, mit der Overath ihre journalistische Spurensuche betreibt, erzeugt einen ganz eigenen Sog. Seit mehr als einem Jahrzehnt recherchiert sie zu dem Fall, der gesamte Podcast ist aus ihrer Perspektive erzählt. „Was am 7. Januar 2005 geschah, lässt mich nicht los“, heißt es eingangs, und diese Dringlichkeit überträgt sich beim Hören. 

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Oury Jalloh (Foto: ARNO BURGI/dpa/picture-alliance)

Auch Mouctar Bah von der „Initiative in Gedenken an Oury Jalloh“ lässt der Fall nicht los. Hier kontrolliert Bah einen mit Sensoren, Schweinehaut und Fett versehenen Dummy im Institut für Brand- und Löschforschung in Dippoldiswalde (Sachsen)

(Foto: ARNO BURGI/dpa/picture-alliance)
 

Overath will mit ihrem Podcast bewusst die Erzählung des Tathergangs hinterfragen, an der Staatsanwälte, Richter und Ermittler bis heute festhalten: dass sich Jalloh selbst angezündet hat. Betrunken, an Händen und Füßen gefesselt, soll er die Matratze in der Zelle aufgerissen und das Innenfutter mit einem Feuerzeug in Brand gesetzt haben. Auf diese Weise soll Jalloh ein Feuer verursacht haben, dessen Hitze so stark gewesen sein soll, dass die Finger seiner linken Hand komplett verbrannten. 

Dass Polizisten Jalloh angezündet haben könnten, um eine Gewalttat zu vertuschen, diese Hypothese galt viele Jahre lang als abwegig. Overath aber trägt zahlreiche Indizien zusammen, um die Hypothese zu untermauern. Sie skizziert beispielsweise mithilfe eines Polizisten, der vor vielen Jahren in Sachsen-Anhalt eingesetzt war, die Stimmung, die damals auf dem Revier geherrscht haben soll. Der Beamte berichtet anonym, wie „renitente Personen“ durch Prügel „diszipliniert“ worden sein sollen. Hinzu kommt, dass es bereits zuvor zwei ungeklärte Todesfälle in Verbindung mit Dessauer Polizisten gab: Der arbeitslose Ingenieur Hans-Jürgen R. wurde 1997 nach einer Alkoholkontrolle schwer verletzt in der Nähe des Polizeireviers aufgefunden, er verstarb kurze Zeit später. 2002 starb der Wohnungslose Mario B. in derselben Zelle wie Jalloh an einem Schädelbasisbruch. Auch Jalloh hatte schwere Kopfverletzungen, die Nase und eine Rippe waren gebrochen.

„Hat er Schmerzen erlitten?“

Dass der Fall noch immer diskutiert wird, hängt auch mit der Arbeit von Aktivisten wie Mouctar Bah zusammen. Er war ein Freund Jallohs und ist Mitglied der „Initiative in Gedenken an Oury Jalloh“. Die ließ nicht nur Jallohs Leiche nach Verletzungen untersuchen, sondern gab auch ein Brandgutachten in Auftrag, das erhebliche Zweifel an der Selbsttötungsthese aufwirft. Im Herbst 2019 sitzt Margot Overath gemeinsam mit Mouctar Bah und dem Bruder von Oury Jalloh, Saliou, zusammen. Das Aufnahmegerät läuft. Die Männer fragen, ob Jalloh schon tot war, als er verbrannte. „Hat er Schmerzen erlitten?“, fragt Bah. Overath sagt, nach ihren Recherchen sei er bewusstlos gewesen, „k. o. geschlagen“, er habe nicht gelitten. Eine lange Pause, Bah atmet tief durch, dann sagt er: „Ich bin erleichtert.“

Es sind auch solche Stellen, die dem Podcast seine Wucht geben. Overath zeigt, wie zerstörerisch der Verdacht auf Hinterbliebene wirkt, ihre Angehörigen könnten Opfer der Polizei geworden sein – jener Instanz, die sie doch eigentlich schützen sollte. Wann wird es Mouctar Bah und Saliou Jalloh möglich sein, mit diesem Verdacht abzuschließen? Das ist nur eine von vielen offenen Fragen, die „Oury Jalloh und die Toten des Polizeireviers Dessau“ stellt. In Zeiten, in denen weltweit über Rassismus und Polizeigewalt diskutiert wird, sind die Antworten dringlicher denn je.

Der Podcast „Oury Jalloh und die Toten des Polizeireviers Dessau“ ist unter anderem hier abrufbar

Das Titelbild zeigt Oury Jalloh mit seiner Tochter Jessica und die Ausnüchterungszelle Nr. 5. (Fotos: Imago)

Dieser Text wurde veröffentlicht unter der Lizenz CC-BY-NC-ND-4.0-DE. Die Fotos dürfen nicht verwendet werden.