Thema – Integration

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Hasibullah, du bleibst hier!

Hasibullah Ahemedzei ist 25 und lebt in einem sächsischen Dorf. Er hasst es, und viele Dorfbewohner hassen ihn. Doch Ahemedzei darf nicht wegziehen – obwohl er ein Jobangebot aus Leipzig hat

Hasibullah Ahmadzei (Foto: Hannes Wiedemann)

Bad Gottleuba-Berggießhübel ist ein ruhiger Ort. Eingekesselt zwischen Wald und Feldern reiht sich hier ein Einfamilienhaus an das andere. Weißer Rauch quillt aus ihren Schornsteinen. Eines der wenigen Lebenszeichen der Bewohner. Hasibullah Ahemedzei steht auf einem schweren roten Teppich in seiner spärlich eingerichteten Wohnung und schaut aus dem Fenster auf die Brachfläche auf der anderen Straßenseite. „Die erste Woche hier war die schlimmste“, erzählt der 25-jährige Afghane.

Vor zwei Jahren wurden er und rund zwei Dutzend weitere Asylbewerber mit einem Bus hierhergebracht. In die kleine Stadt in der sächsischen Provinz. Knapp 6.000 Menschen wohnen hier, eine halbe Autostunde südlich von Dresden. Ahemedzei erinnert sich, wie froh er war, die Flüchtlingsunterkunft in Pirna verlassen zu können. „Am Anfang habe ich gedacht, wir können hier Kontakt zu Deutschen bekommen“, erzählt er. 

Am liebsten wäre er gleich wieder weggezogen

Schnell schwindet seine Hoffnung. Ahemedzei berichtet, dass Unbekannte immer wieder nachts Steine und Silvesterböller gegen die Fenster werfen. Sie zerstechen die Reifen der Fahrräder, die bis heute auf einen Haufen geworfen unter den hohen Tannen vor der Haustür liegen. Bereits in der ersten Nacht beginnen die Angriffe, sagt er. Es fällt ihm schwer, in dem verschlafenen Städtchen, das Ahemedzei oft nur „das Dorf“ nennt, Anschluss zu finden. 

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Hasibullah Ahmadzei

In der ersten Nacht begannen die Angriffe, erzählt Hasibullah Ahemedzei. Sein Fahrrad liegt schon lange mit zerstochenen Reifen vor seiner Unterkunft

Am liebsten wäre er gleich wieder weggezogen. Doch er darf nicht, denn aufgrund der sogenannten Wohnsitzauflage muss er in Berggießhübel bleiben. Sie gilt für alle Menschen in Deutschland, die eine „Aufenthaltsgestattung“ besitzen, weil sie sich noch im Asylverfahren befinden. Die Regelung soll dazu dienen, Asylsuchende gerecht zu verteilen und große Städte zu entlasten.

Für Ahemedzei heißt das: Solange sein Asylverfahren läuft und er Sozialleistungen bekommt, muss er in Bad Gottleuba-Berggießhübel wohnen. Er darf sich zwar außerhalb des Ortes aufhalten, doch von einer ländlichen Gegend wie dieser braucht man lange in die Stadt. Eine Möglichkeit, doch noch wegziehen zu können: einen „Antrag auf Umverteilung“ stellen und darum bitten, einer anderen Kommune zugewiesen zu werden – berücksichtigt werden jedoch meist nur Härtefälle. Erfolgversprechender wäre es für ihn, Arbeit zu finden. Nur wenn er sein eigenes Geld verdient, kann die Wohnsitzauflage aufgehoben werden. 

Seine Hoffnung: das BMW-Werk in Leipzig 

In den Wochen nach seiner Ankunft sucht er daher händeringend einen Job. Welcher, ist ihm egal. „Ich wollte einfach nur arbeiten“, sagt er. Er schreibt so viele Bewerbungen, dass er sie nicht mehr alle zählen kann. Schließlich findet er einen Minijob in Pirna: Beim Billigladen Tedi arbeitet er einige Monate. Aber das Problem mit den Nachbarn im Dorf bleibt. Wenn er durch die Straßen läuft, werfen ihm viele Einwohner abwertende Blicke zu. Er grüßt, aber kaum jemand grüßt zurück. 

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Berggießhübel

Schneebedeckte Felder …

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Hasibullah Ahmadzei

… und schimmelbefleckte Decken. Seine Zeit in Berggießhübel bedeutet für Hasibullah vor allem: warten auf den Umzug in eine größere Stadt

Im Juli 2018 bietet ihm eine Zeitarbeitsfirma an, bei BMW in Leipzig zu arbeiten. Vollzeit. Er braucht nur eine Arbeitserlaubnis, dann darf er das Dorf verlassen. Da sich Ahemedzei noch im Asylverfahren befindet, benötigt er für jeden Job eine neue Arbeitserlaubnis von der Ausländerbehörde. Normalerweise kein Problem. Er kündigt bei Tedi in der Erwartung, die Stelle bei BMW antreten zu können.

Doch diesmal wird sein Antrag erst gar nicht bearbeitet. Er habe eine Wohnsitzauflage in Berggießhübel und könne nicht täglich nach Leipzig pendeln. Er müsse erst einen Antrag stellen, damit er umziehen darf, heißt es. Ahemedzei versteht das nicht: Mit der Stelle bei BMW könnte er sich selbst finanzieren – eine Bedingung dafür, dass die Wohnsitzauflage ihn nicht mehr betrifft. Er stellt also doch einen „Antrag auf Umverteilung“ nach Leipzig. Und wartet.

Ein bürokratischer Hürdenlauf beginnt

Während der Wochen des Wartens langweilt sich Ahemedzei weiter in Berggießhübel. Es gibt kein Fitnessstudio, das er gut erreichen kann. Der Bus nach Pirna, die nächste größere Stadt, kostet hin und zurück fast zehn Euro – zu teuer für ihn. Im Dorf hat er eine Turnhalle entdeckt, aber die ist bereits belegt. Manchmal schaut er sich Filme und Serien auf Youtube an. Wenigstens ein bisschen Deutsch lernen, nicht alles vergessen, was er in den Deutschkursen schon gelernt hat. Ahemedzeis Mitbewohner stammen ebenfalls alle aus Afghanistan. Sie sprechen schlechter Deutsch als er. 

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Hasibullah Ahmadzei

Zehn Euro kostet die Hin- und Rückfahrt nach Pirna. Oft kann er sich das nicht leisten

Eigentlich sollte es der Vorteil der Wohnsitzauflage sein, in den kleinen Gemeinden besser Deutsch zu lernen. So erhoffen sich die Befürworter eine bessere Integration. Nur ist in Berggießhübel kaum jemand, der Ahemedzei überhaupt integriert sehen will. Er ist isoliert. Das Nichtstun macht ihn müde, und die Sorge um seine Familie in Afghanistan macht ihn krank. Seitdem sie vor einem Jahr ebenfalls das Land verlassen wollte, hat er nichts mehr von ihr gehört. Ob sie den Iran je erreicht hat? Ob ihr etwas zugestoßen ist? Er kann es nicht sagen. Er hat Kopfschmerzen, kann sich nur noch schlecht konzentrieren. An der Decke bildet sich schwarzer Schimmel, von Tag zu Tag wächst der Fleck.

Mitte September erreicht ihn ein Schreiben der Ausländerbehörde. Sein „Antrag auf Umverteilung“ ist abgelehnt, da er noch keinen Arbeitsvertrag unterschrieben hat, der einen Umzug rechtfertigt. „Warum wollen die nicht, dass ich arbeite?“, fragt sich Ahemedzei. Für ihn ist die deutsche Bürokratie ein einziger kafkaesker Hindernislauf: Ohne Arbeitserlaubnis von der Ausländerbehörde kein unterschriebener Arbeitsvertrag; und ohne Arbeitsvertrag erlaubt die Ausländerbehörde nicht, umziehen zu dürfen.

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Hasibullah Ahmadzei

Um sich zu beschäftigen und sein Deutsch nicht zu verlernen, schreibt er Vokabellisten. In Berggießhübel hat Hasibullah Ahemedzei nur wenig Kontakt mit Deutschen

Der Sächsische Flüchtlingsrat kritisiert die Willkür, mit der Behörden in der Frage der Wohnsitzauflage entscheiden. „Wir beobachten besonders auf der Ebene der Sachbearbeiter, dass der gesetzliche Spielraum relativ weit ausgelegt wird“, sagt Angela Müller vom Sächsischen Flüchtlingsrat. Auch das Sächsische Staatsministerium des Innern kommt zu dem Schluss, die Ausländerbehörde habe in diesem Fall falsch entschieden. Mitte Dezember klagt Ahemedzei. Noch ist kein Urteil gesprochen.

„Ich gehe nicht mehr raus“, sagt er. „Es interessiert mich nicht mehr. Das alles hat meine Hoffnung kaputt gemacht.“ In seinem Zimmer fühlt er sich sicher. Sicher vor den abwertenden Blicken, vor Angriffen und Beleidigungen. Er hockt auf dem Bett, den Blick auf das Handy gerichtet. An der Wand hängen Vokabellisten. Die schreibt er sich manchmal noch, um sich zu beschäftigen. Draußen ruht Berggießhübel, das Dorf, in dem Hasibullah Ahemedzei keine Ruhe findet. 

Ein Jahr später haben wir Hasibullah erneut besucht. Mittlerweile wurde ihm eine andere Wohnung zugeteilt: in Pirna. Aber Hasibullah hat ganz andere Sorgen …

Was ist die Wohnsitzauflage und Residenzpflicht?

Für Asylbewerber und anerkannte Flüchtlinge gibt es in Deutschland drei verschiedene Gesetze, die die Bewegungsfreiheit einschränken. In den ersten drei Monaten gilt für Asylbewerber die Residenzpflicht: Die betroffenen Personen müssen sich im Bezirk der Erstaufnahmeeinrichtung aufhalten, für Personen aus sicheren Herkunftsländern gilt das sogar während des ganzen Asylverfahrens. Nach den ersten drei Monaten tritt die Wohnsitzauflage in Kraft. Die betroffenen Personen müssen an einem bestimmten Ort wohnen, den sie jedoch zeitweise verlassen dürfen, um beispielsweise Freunde zu besuchen. Seit einer Gesetzesänderung 2016 gibt es die sogenannte neue Wohnsitzauflage auch für anerkannte Flüchtlinge, solange sie Sozialleistungen beziehen. Bis zu drei Jahre müssen sie in dem Bundesland wohnen, in dem sie das Asylverfahren durchlaufen. Die Bundesländer haben zusätzlich die Möglichkeit, die neue Wohnsitzauflage zu verschärfen. Unter anderem Bayern und Sachsen machen von dieser Regelung Gebrauch und verpflichten anerkannte Asylbewerber dazu, ihren Wohnsitz in eine vorgeschriebene Kommune zu verlegen. Eigentlich sollte diese Regelung im Sommer 2019 auslaufen. Die Bundesregierung hat jedoch einen Entwurf vorgelegt, um sie dauerhaft im Gesetz zu verankern. Der Bundestag muss noch zustimmen.

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