Wo ist der Feind? Vorne? Hinten? Schüsse aus allen Richtungen, mitten in einem polnischen Wald. Jemand zündet eine Rauchgranate, sie prallt am Stamm einer Birke ab, fällt dem Kämpfer vors Gesicht und hüllt ihn in Nebel.
„Ihr seid tot! Erschossen! Das müsst ihr noch mal üben!“ Es ist die Stimme von Trainerin Gosia Lewinsky. Die Kämpfer werfen sich zu Boden, als würden sie nun sterben. Die Schüsse: nur Stimmen von ein paar Männern und Frauen, peng, peng. Die Rauchgranate: zum Glück nur ein billiger Böller. Die Vaterlandsverteidigung: misslungen. Aber war ja nur eine Übung.
Mrozy. Ein Dorf, etwa eine Autostunde östlich von Warschau. Hier kaufen alte Leute samstagmorgens um sieben Wurst in Scheiben beim Metzger, Jugendliche verbringen die Nächte am Wochenende in ihren Autos vor der Pizzeria. Dreißig Männer und Frauen schleichen durch den Wald, in Tarnfarben gehüllt und mit Rucksäcken beladen, die Waffen zum Gefecht bereit. Sie üben, sich als Einheit zu bewegen, auf den Feind zu reagieren. Mögliche Angreifer? Russen. Ukrainer. Islamisten. Angela Merkel. So sagen es die Teilnehmer dieses Lehrgangs. Sie tragen Uniform, doch Soldaten sind sie nicht. Sondern Studenten, Lehrer, Büroangestellte oder Schüler.
Überall in Polen gibt es paramilitärischen Gruppen, wie viele, weiß niemand so genau
„Wir wollen nicht kämpfen“, sagt Lewinsky, „wir wollen nicht töten. Aber wir wollen den Feind wissen lassen, dass er es schwer haben wird.“ „Ich schieße gerne. Ich verbringe viel Zeit damit“, sagt einer von ihnen. „Krieg liegt Menschen in den Genen, schon immer“, ein anderer.
Überall in Polen gibt es solche paramilitärischen Gruppen, wie viele, weiß niemand so genau. Das Verteidigungsministerium geht von bis zu 90.000 Paramilitärs aus. Zum Vergleich: Für die polnischen Armee arbeiten derzeit 98.000 Soldaten.
Trainerin Gosia Lewinsky ist in dem kleinen Ort Mrozy aufgewachsen und lebt bis heute hier. Sie ist 28 Jahre alt, trägt ihre langen blonden Haare zum Zopf geflochten und eine rahmenlose Brille. Seit fünf Jahren bereitet sie sich darauf vor, für ihr Land zu kämpfen. An diesem Wochenende trainiert sie den Nachwuchs.
Ihre Chefs und Spione sollen von ihrem Hobby nichts wissen
Früher war sie mal Verkäuferin in einem Waffengeschäft, heute hat sie einen Bürojob. So genau, sagt sie, darf das nicht in diesem Artikel stehen. So auch nicht ihr richtiger Name. Ihre Chefs sollen von ihrem Hobby nichts wissen. Spione auch nicht.
Lewinsky gehört zur ersten Generation Polens, die nach der politischen Wende 1989 in einem unabhängigen, friedlichen Land erwachsen geworden ist. In einem Land, in dem die Geschichte an Häuserwänden und auf T-Shirts klebt, ein goldgekrönter Adler, das Staatswappen. Tafeln erinnern an die Helden der jüngeren Geschichte, die sich als Widerstand gegen die Wehrmacht organisierten, überall prangt ihr Zeichen, ein geschwungenes W. Es ist aber auch ein Land, in dem Militärkunde in vielen Schulen zum Lehrplan gehört, Camouflage-Kleidung auffällig oft ins Stadtbild und Militärparaden Ereignisse für Familien sind. Mal eine Waffe anfassen. Für ein Foto damit posieren.
Lewinsky gehört eigentlich auch zur Generation Erasmus, die sich durch die Europäische Union und über den Globus hinwegbewegen kann wie durch die eigene Nachbarschaft. Doch Lewinsky sagt: „Polen ist auch schön. Erst schaue ich mir mein eigenes Land an, dann andere.“
Gosia Lewinsky lebt im Haus ihrer Eltern, jeden Tag pendelt sie zur Arbeit nach Warschau, eine Dreiviertelstunde mit dem Regionalzug hin, eine zurück. Sie verdient nicht genug, um sich eine eigene Wohnung zu leisten. Lewinsky ist nicht die Einzige ihrer Generation, die trotz Arbeit weiter von ihrer Familie abhängig ist. Dabei ist Polen heute aus ökonomischer Sicht Musterschüler, das Bruttoinlandsprodukt wächst. Die Regierung baute mit den Fördermilliarden der EU Schulen, Kindergärten und Autobahnen – und privatisierte sie dann. Die Mieten stiegen, die Löhne stagnierten. Die Frustration der Bürger darüber gipfelte 2015 darin, dass sie eine rechtspopulistische Regierung wählten. Hier, am Rande Europas, zerbröselt die Idee, dass die Europäische Union Wohlstand für alle bringt. Stattdessen kehrt die alte Angst zurück, als kleines Land den großen Feinden ausgeliefert zu sein. Die hatten sich schon in der Vergangenheit Polen gegenseitig wie ein Geschenk überreicht.
Die Idee: Wenn sie viele sind, kann die Gesellschaft sie nicht länger ignorieren oder ihre Arbeit als kurioses Hobby abtun
Das soll nicht wieder passieren, die Paramilitärs wollen vorbereitet sein. Ihr historisches Vorbild: der Kampf der Armia Krajowa – der Heimatarmee –, die im Zweiten Weltkrieg gegen die deutsche Wehrmacht kämpfte. Die Paramilitärs erinnern etwa an den Warschauer Aufstand im Spätsommer 1944. Damals hatte sich das polnische Volk aus dem Untergrund organisiert, 300.000 Menschen hatten sich der Armia Krajowa angeschlossen, allein in Warschau waren es etwa 45.000 Kämpfer: eine der größten Untergrundarmeen, die es je in Europa gegeben hat. Ihr Aufstand begann im Zentrum Warschaus, aus dem sie die Nazis vertreiben wollten. Doch auf ihren Widerstand folgte die totale Zerstörung der Stadt. Die Armia Krajowa unterlag der Wehrmacht, Zehntausende Polen starben. Die sowjetische Armee sah zu und marschierte anschließend ein. Die Untergrundkämpfer flohen ins Exil. Zurück ließen sie den Wunsch nach Freiheit und Selbstbestimmtheit.
Deshalb steht Lewinsky im Wald und brüllt Rekruten an. Sie und ihre Mitstreiter wollen mehr Mitglieder ausbilden. Die Idee: Wenn sie viele sind, kann die Gesellschaft sie nicht länger ignorieren oder, schlimmer noch, ihre Arbeit als kurioses Hobby abtun. Über Kader, die sich bis ins Ministerium vernetzen, wollen sie ihre Idee eines selbstbestimmten Volkes verbreiten. Dafür haben die Paramilitärs eigens eine Art Dachverband gegründet, Obrona Narodowa, Nationale Verteidigung. Und ihr Plan geht auf.
Im vergangenen Sommer fand in Polen ein gemeinsames Training von Einheiten diverser NATO-Staaten und -Partnerstaaten an der polnisch-russischen Grenze statt. Es ging darum, Taktiken zu üben. Sich als Alliierte gegen den russischen Feind zu verbinden. Sich auszutauschen, voneinander zu lernen. Das Besondere: Zum ersten Mal ließ die rechtspopulistische Regierung auch Paramilitärs zum Training zu. Unter anderem Gosia Lewinsky. „Wir haben dort gezeigt, dass wir auch was können“, sagt sie.
Jetzt sollen die Paramilitärs auch in die nationale Verteidigungsstrategie eingebunden werden
Schon die Vorgängerregierung hatte überlegt, wie sie Paramilitärs in die nationale Verteidigungsstrategie einbinden soll. Im Notfall helfen, Häuser zu evakuieren, Lager aufzubauen und Sandsäcke zu stapeln. Die Nachfolgeregierung testet diese Zusammenarbeit weiter, dieses Mal mit dem Ziel, die Paramilitärs auch kämpfen zu lassen. Die ersten paramilitärischen Gruppen haben kürzlich ein zweiwöchiges Basistraining absolviert, sie bekommen – für ein Trainingswochenende pro Monat – einen Sold von rund 120 Euro, dazu die Ausrüstung. Mehr als 800 Millionen Euro will der Staat dafür in den kommenden drei Jahren ausgeben – für bewaffnete Low-Budget-Soldaten. Sie handeln im Auftrag einer Regierung, die die Grundrechte ihrer Bürger einschränkt, die Pressefreiheit beispielsweise oder die Unabhängigkeit des Verfassungsgerichtshofs. Und niemand weiß so genau, wofür die Paramilitärs politisch stehen.
Bei dem NATO-Training war auch eine paramilitärische Einheit aus Krakau dabei. Einer aus dieser Gruppe hatte zuvor eine Flagge der NATO öffentlich verbrannt. „Theater“ nennt er solche Militärübungen und „Propaganda“. Sein Name ist Michał Prokopowicz. Er ist nicht nur Leiter der paramilitärischen Einheit SJS 2039 Kraków. Früher war er in der prorussischen Partei Zmiana aktiv. Heute ist er auch Mitglied der Organisation Falanga. Sie gilt als faschistisch. Mitglieder dieser Gruppe sollen an der Grenze zur Ukraine Jagd auf Flüchtlinge gemacht haben. Sie brüsten sich damit im Internet.
Hier in Polen, sagt er, findet eine neue Form von Kolonialismus statt, die Versklavung der jungen Polen, die nichts besitzen
Prokopowicz sitzt am Schreibtisch eines kleinen Büros, seine Waffe und eine schusssichere Weste liegen auf dem Boden. Die Tür wird von einer Munitionskiste offen gehalten. Das Hauptquartier seiner Einheit. Prokopowicz, er trägt Uniform und die blonden Haare streng gescheitelt, sagt Sätze wie „Polen darf nicht das Afghanistan Europas sein“. Seine Einheit ist jung. Er hat sie gegründet, weil er zuvor aus einer anderen rausgeflogen war. Zu politisch war er der Leitung seiner Einheit. Zu radikal. Doch dagegen, dass er Jugendliche nun selbst ausbildet, scheint niemand etwas zu haben. Sie dürfen sogar bei Stadtfesten aufmarschieren.
Hier in Polen, sagt er, findet eine neue Form von Kolonialismus statt, die Versklavung der jungen Polen, die nichts besitzen. Durch wen? Durch den Kapitalismus, die Banken, so explizit formuliert er das nicht, Migration ist jedenfalls auch irgendwie schuld an der Misere. Prokopowicz’ Gegenstrategie: die Polen militarisieren. Allein im letzten halben Jahr sind sechs seiner Rekruten im Militär aufgenommen worden.
Zu sagen, die Paramilitärs treibe die Angst vor Russland an die Waffen und in die Wälder, wäre zu einfach – und bei Menschen wie Prokopowicz falsch. Viel mehr treibt sie die diffuse Idee, die Familie und die Freunde, die Nachbarschaft, sich selbst beschützen zu wollen. Sie sagen, sie handeln im Sinne ihrer Nation. Ihre Regierung sagt, sie sind eine wertvolle Ressource für die Verteidigung der Nation. Doch was, wenn sie darüber entscheiden wollen, wer zur Nation gehört und wer nicht?
Gosia Lewinsky sagt: „Wir müssen uns daran erinnern, wer wir sind, woher unsere Familien kommen.“ Michał Prokopowicz ist da deutlicher: „Wenn ich sterbe, dann im Kampf.“