Pflicht! Ein Anti-Egoismus-Jahr tut jedem gut
Omis den Po abwischen? Rollstühle durch die Gegend schieben? Krötenwanderungen absichern? Unfallstellen auf der Autobahn räumen?
Klang für mich mit 18 alles ziemlich lächerlich, auf jeden Fall nicht nach einer ernsthaften Perspektive nach dem Abi. Stattdessen wollten meine Freunde und ich schnurstracks Karriere machen, am besten als Manager. Den schwarzen Aktenkoffer trugen wir schon, die Krawatte und den Anzug auch. Unser Soundtrack dazu waren Zynismus und der coole Synthesizersound der Achtziger. Um uns Bundeswehr und Zivildienst zu sparen, gingen wir nach Westberlin und studierten BWL. Da galt das Besatzungsrecht der Alliierten, und das sagte: Keine Waffe für Westberliner.
Junge Menschen vom Selbstverwirklichungs-Zwang befreien
Sonderlich stolz bin ich im Nachhinein nicht auf diese Zeit. Im Gegenteil: Mir hätte es ganz gut getan, mich mal um andere zu kümmern. Stattdessen drehte sich mein damaliges Ich nur um sich selbst, dachte an niemand anderes, am wenigsten an die, denen es schlechter ging als mir.
Ein bisschen ist es heute wieder so. Die Selbstverwirklichung junger Menschen ist nur subtiler geworden und kommt nicht mehr so großkotzig wie damals daher. Aber auch heute basteln viele an optimierten Lebensläufen, um sich für die Arbeitswelt hübsch zu machen: Abi, Auslandsjahr, Praktika, Bachelor, Master, mit 24 scheinbar schon fix und fertig. Wenn ein soziales oder ökologisches Jahr gemacht wird, dann gerne im Ausland, man will ja was sehen von der Welt, andere Kulturen kennenlernen, wie das so schön heißt. Und schließlich gibt es doch so viele Länder, wo die Menschen nur darauf warten, dass ihnen frischgebackene Abiturienten aus Deutschland endlich zu Hilfe eilen. Oder etwa nicht? Auch das ist eine ziemlich bornierte Sicht auf die Welt, die mit den Bedürfnissen vor Ort oft wenig zu tun hat. Im Gegenteil: Ein soziales Jahr im Ausland ist oft umgekehrte Entwicklungshilfe – nicht für das Land, sondern für die, die in die Ferne reisen und sich dort entwickeln wollen. Die eigene Selbstverwirklichung wird als Weltrettungsprojekt verbrämt.
Mehr Menschen würden ihre Fähigkeit zur Empathie entdecken
Es ist gut, wenn Menschen viel über soziale Ungleichheiten sprechen, über das, was wir mit unserem Konsum in anderen Ländern anrichten, wer auf dieser Welt wen ausbeutet. Aber diese globale Perspektive verstellt den Blick auf die hiesigen Verwerfungen und darauf, was man selbst tun kann, um die Gesellschaft hier weiterzubringen.
Ein verpflichtendes soziales Jahr könnte das ändern. Es könnte in den fein säuberlich kuratierten Lebensläufen die notwendige Disruption sein und dazu führen, dass mehr Menschen ihre Fähigkeit zur Empathie entdecken, zum sozialen Handeln. Das bringt jedem Einzelnen etwas und der Gesellschaft als Ganzes – besonders in einer Zeit, in der die Diskriminierung von Menschen zum Massenphänomen zu werden droht. Es könnte zu mehr Verständigung zwischen den gesellschaftlichen Milieus führen, zu mehr Demut gegenüber der eigenen Wohlstandsblase. Dafür muss man nicht nach Afrika. Und, ja, es könnte dazu beitragen, den Notstand im Pflegebereich zu lindern. Natürlich höre ich schon das Gegenargument, dass man auf diese Weise den Staat aus der Verpflichtung entlässt, Pflegeberufe ordentlich zu bezahlen und das System zu erneuern. Aber das ist ungefähr so, wie wenn man bettelnden Menschen kein Geld gibt, weil doch bitte schön der Staat dafür sorgen soll, dass es gar keine Bettler gibt.
„Freiheitsberaubung“? Es gibt durchaus sinnvolle Zwänge
Die Einführung eines verpflichtenden Dienstjahres sollte von anderen staatlichen Maßnahmen zur Verbesserung des Pflegenotstands begleitet werden. Nur für ein Land, das seinen Teil dazu beiträgt, die Notlagen seiner Bürger zu beseitigen, arbeitet man gern.
Wer jetzt „Freiheitsberaubung“ schreit, sollte darüber nachdenken, dass es durchaus sinnvolle Zwänge gibt. Die Schule ist auch einer. Forderungen, die Schulpflicht abzuschaffen, sind eher selten. Außerdem setzen wir uns vielen Zwängen, die weitaus weniger nützlich für die Gesellschaft sind, freiwillig aus. Etwa dem zwanghaften Glauben, dass man mit einem besonders stromlinienförmigen Lebenslauf die besten Jobs bekommt. Dabei würden sich die meisten Unternehmen wünschen, wenn in der Biografie auch mal stünde: ein Jahr Omas den Po abgewischt oder mit behinderten Menschen Rollstühle repariert.
Oliver Gehrs gibt das Dummy-Magazin heraus und leitet die fluter-Redaktion. Er hat nach der Schule kein soziales Jahr absolviert – verrichtet heut aber trotzdem gern soziale Dienste: Er kocht Kaffee für Kollegen, reinigt das Abflussrohr oder repariert nach Feierabend den Kickertisch.
Collagen: Renke Brandt
Kür! Jeder soll dürfen, keiner müssen
Ich erinnere mich noch genau an den Brief, den ich im Schuljahr vor dem Abitur bekam. Der Bundesadler prangte im Briefkopf, darunter dann die ersehnte Nachricht: Ich wurde von der Wehrpflicht und dem Zivildienst befreit, weil meine beiden großen Brüder bereits Zivildienst geleistet hatten. Ich durfte nach der Schule machen, was ich wollte, zum ersten Mal in meinem Leben.
Ich fand das fair. War ich deshalb ein Egoist? Wenn man die aktuelle Debatte verfolgt: offenbar schon. Begeistert prophezeien die Befürworter, dass ein „Anti-Egoismus-Jahr“ den Zusammenhalt in der Gesellschaft stärken würde.
Die Idee eines Pflichtjahres hat fragwürdige Vorbilder. Bereits unter den Nazis gab es den „Reichsarbeitsdienst“, den alle Deutschen, ob Frau oder Mann, abzuleisten hatten. In diesem Zusammenhang war es nicht weniger als ein historischer Erfolg, dass die Wehrpflicht und damit auch der Zivildienst in Deutschland 2011 schließlich ausgesetzt wurde.
Arbeitskräfte für unattraktive Jobs
Manch ein Politiker will nun die Wehrpflicht durch die Hintertür wieder einführen. Ein Dienstjahr müsste nicht unbedingt im sozialen, kulturellen oder ökologischen Bereich abgeleistet werden, auch der Militärdienst stände zur Auswahl.
Die Bundeswehr findet seit dem Ende der Wehrpflicht nicht ausreichend Freiwillige. Sie ist als Arbeitgeber zu unattraktiv. Klar, wer lässt sich schon gern freiwillig anschreien? Wer den jährlichen Bericht des Wehrbeauftragten des Deutschen Bundestags liest, erkennt die tieferen Probleme der Bundeswehr. Chauvinistische Sprache, gesundheitsgefährdende Mutproben und rechtsradikale Sprüche kommen bei der Bundeswehr immer noch vor. Der Etat des Bundesverteidigungsministeriums macht den zweitgrößten Posten im Bundeshaushalt aus. Es wäre also genug Geld vorhanden, um Bewerber anzulocken.
Und noch ein praktisches Problem soll das Pflichtjahr lösen: In sozialen Berufen, vor allem in der Kranken- und Altenpflege, fehlt Personal. Aber dieser Mangel hat ökonomische und politische Ursachen. Sie lassen sich nicht mit einer moralischen Pflicht beheben. Es gibt einfache Wege, mehr Personal zu finden: Qualifikation von Geflüchteten, Arbeitsmigration, höhere Löhne und attraktive Arbeitsbedingungen. Doch die sind politisch entweder nicht gewollt oder für den Arbeitgeber zu teuer. Günstige Schulabgänger scheinen da ein einfacher Ausweg zu sein.
Ein Jahr Dienst an der Gemeinschaft muss ein Recht sein, keine Pflicht
Wer nach der Schule weiß, was er will, soll ohne Umwege in Ausbildung und Studium starten dürfen. Wer noch keinen Plan hat, was er mit seinem Leben anfangen soll, für den ist ein Jahr in einer Behindertenwerkstatt oder als Küchenhilfe in einer Einrichtung für Suchtkranke sicherlich ein besserer Einblick in die Gesellschaft als sechs Monate Surfen in Australien. Aber diese Möglichkeiten gibt es jetzt schon, sie heißen Bundesfreiwilligendienst, weltwärts oder Freiwilliges Soziales Jahr.
Das Problem dabei: Das Geld, das man dort bekommt, reicht oft nur, um die Miete zu zahlen. Wenn überhaupt. Die meisten Freiwilligen können sich so ein Jahr nur leisten, wenn sie reiche Eltern haben. Die bestehenden Programme müssen also mit mehr Geld ausgestattet werden. Dann bräuchte es keinen Zwang zur gemeinnützigen Arbeit. Für eine ganze Generation würde es attraktiv werden, freiwillig der Gesellschaft ihren Dienst zu erweisen.
Man sollte das Gymnasium abschaffen!
Wer jetzt ein „Anti-Egoismus-Jahr“ fordert, verschließt die Augen vor den eigentlichen Ursachen für die Selbstoptimierung und den mangelnden Zusammenhalt in der Gesellschaft. Ein Jahr Pflichtdienst kann das Leistungsdenken, das die Schule uns beibringt, nicht ausgleichen.
Was ändern zwölf Monate soziale Arbeit, wenn deutsche Schüler vorher viele Jahre lang ein Bildungssystem durchlaufen, das so ungerecht ist und so sehr nach der sozialen Herkunft der Eltern aussortiert wie in kaum einer anderen Industrienation? Wäre es da nicht besser, das Gymnasium abzuschaffen und alle Schüler gemeinsam in einer Schule zu unterrichten? So würden sie zu „Anti-Egoisten“ erzogen – ein echter Schritt zu mehr Zusammenhalt.
Kersten Augustin ist Redakteur der taz am wochenende. Er ist gegen eine Dienstpflicht, beneidet aber manche seiner Freunde um ihre Fähigkeiten aus dem Zivildienst: schnell Kartoffeln schälen, ordentlich Betten beziehen oder um 6 Uhr aufstehen.