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Darum geht es bei den Protesten im Irak

Seit einem Monat demonstrieren in Bagdad und zahlreichen weiteren Städten Tausende Menschen gegen Korruption und Misswirtschaft – über 200 wurden bisher getötet

„Ich bin auf dem Weg nach Bagdad“, schreibt Ali Amer Almikdam am 24. Oktober via WhatsApp. Am Tag darauf werden dort die Demonstrationen gegen die Regierung weitergehen. Erst zwei Wochen zuvor war der irakische Aktivist und Kunststudent nach Erbil in Irakisch-Kurdistan geflohen – nachdem Unbekannte sein Haus in Bagdad gestürmt und seine Einrichtung zertrümmert hatten. Er hatte erfahren, dass die Regierung nach ihm suchte. Am Telefon bedrohten ihn Unbekannte mit dem Tod.

Doch das hält Almikdam nicht davon ab, nach Bagdad zurückzukehren. Wie viele andere junge Iraker ist auch er entschlossen, das einzufordern, was die Demonstranten „ihr Recht“ nennen: eine Regierung, die ihre Bürger respektiert, eine funktionierende Infrastruktur und Arbeitsmöglichkeiten. 

„Für uns Iraker ist der Tod so normal, wie Wasser zu trinken: 2006 bis 2009 war der Bürgerkrieg, 2014 kam der Islamische Staat. Ich hatte keine richtige Kindheit und keine Jugend. Ich musste immer um acht Uhr abends zu Hause sein. Jetzt demonstriere ich, weil ich die Kinder, die ich irgendwann haben werde, vor mir sehe: Sie werden keine Zukunft haben. Selbst wer auf der Uni war, findet keinen Job. Er kann noch als Taxifahrer arbeiten. Über uns sagen die Älteren, dass wir die Sponge-Bob-Generation seien, die nur am iPad hängt. Weil wir die 80er-Jahre und die Zeit unter Saddam nicht miterlebt haben. Wir müssen dieses Bild ändern.“ Bassam Alrubaie, 20, Schüler

Am 1. Oktober begann eine neue Protestwelle im Irak. Almikdam war einer von Hunderttausenden vor allem jungen Menschen, die auf die Straßen von Bagdad und vielen anderen Städten und Provinzen strömten, um gegen Korruption und für Perspektiven und eine funktionierende Versorgung zu protestieren. Dabei kam es immer wieder zu Auseinandersetzungen mit Sicherheitskräften: In den ersten Tagen nach Ausbruch der Demonstrationen am 1. Oktober wurden mehr als 6.000 Menschen verletzt, über 157 Menschen starben, schreibt die Nachrichtenagentur Reuters. Mittlerweile ist die Zahl der Todesopfer auf über 200 gestiegen.

Seit dem Ende des Krieges gegen den IS im Irak, im Dezember 2017, hat sich die Sicherheitslage im Land zwar verbessert: In Bagdad explodieren kaum noch Autobomben, Entführungen und Selbstmordanschläge sind seltener geworden. Gleichzeitig treten jedoch andere Probleme in den Vordergrund: In zahlreichen Vierteln Bagdads fällt der Strom fast alle zwei Stunden aus. Jeder vierte Jugendliche ist arbeitslos. Viele haben das Gefühl, von der Regierung unter dem parteilosen Ministerpräsidenten Adel Abdul-Mahdi, der vor gut einem Jahr sein Amt antrat und zunächst als säkularer Hoffnungsträger galt, im Stich gelassen zu werden. 

„Die Leute, die auf der Straße sind, folgen weder einer Religion noch einer politischen Partei. Sie wollen, dass die Regierung zurücktritt. Wir können nicht mehr weitermachen mit dieser Korruption. Wenn ich könnte, würde ich den Irak verlassen. Nur so habe ich eine Zukunft. Aber das heißt nicht, dass ich mein Land nicht liebe. Ich bin bereit, für mein Land zu sterben. So geht es vielen jungen Leuten im Irak.“ Ali Amer Almikdam, 21, Kunststudent und Aktivist

Die Proteste der vergangenen Tage und Wochen gehören zu den größten seit dem Umsturz des Saddam-Regimes 2003. Im Vergleich zu früheren Demonstrationen fordern die Demonstranten heute keine Reformen mehr. Versprechungen der Regierungen waren schließlich kaum je erfüllt worden. Heute fordern die Demonstranten den Rücktritt von Adel Abdul-Mahdi und seiner Regierung und eine tiefgreifende Änderung des politischen Systems.

Die Konflikte im Irak sind komplex. Zum einen sind da ethnische: Im Norden des Landes gibt es die autonome Region Kurdistan, in der gut ein Siebtel der irakischen Bevölkerung lebt. Die Mitte und der Süden des Landes sind mehrheitlich arabisch. 

„Ich schreibe nur unter Pseudonym über die Proteste. Den Fernsehstationen hat die Regierung verboten, über die Demonstrationen zu berichten. Dies sind nicht die ersten Demonstrationen im Irak, doch früher sind die Menschen mit Versprechungen der Regierung wieder nach Hause gegangen. Geändert hat sich aber nichts. Jetzt bekämpft die Regierung die Demonstranten. Trotz all der Korruption dachten wir, dass wir zumindest eine demokratische Regierung haben. Nicht wie damals unter Saddam Hussein. Jetzt aber schickt die Regierung die Antiterroreinheit und Milizen vor – dabei sind die Protestler doch keine Terroristen! Aber die Leute haben keine Angst, sogar die Frauen sind auf der Straße. Wir sind alle betroffen.“  Journalistin (Name der Redaktion bekannt), 29

Zum anderen gibt es religiöse Konflikte, vor allem zwischen sunnitischen und schiitischen Muslimen im arabisch besiedelten Teil des Landes. Nach dem Sturz des Saddam-Regimes 2003 wurde das politische System entlang religiöser Volks- und Religionsgruppen aufgebaut. Das sollte die Mitsprache und Beteiligung der verschiedenen Gruppen sichern – doch stattdessen führte es dazu, dass sich die politischen Parteien und Politiker persönlich bereichern konnten. Laut Korruptionswahrnehmungsindex der Organisation Transparency International ist der Irak heute eines der korruptesten Länder der Welt – auf Platz 168 von 180. 

„Was im Irak passiert, ist keine Demonstration, es ist ein Krieg. Die Regierung bekämpft uns. Sie sagen, sie beschützen unser Recht zu demonstrieren. Aber wie können wir ihnen vertrauen? Über 200 Menschen sind schon gestorben! Immer wenn wir für unsere Rechte auf die Straße gehen, macht uns die Regierung Angst: Der IS würde zurückkommen. Aber die Leute, die jetzt demonstrieren, haben keine Zukunft. Ich habe mit einem geredet, der keine zwanzig Jahre alt war. Ich sagte, er soll vorsichtig sein. Er sagte, er habe keine Arbeit, kein Geld, um zu heiraten, keine Zukunft. Wenn sie ihn töten würden, wäre es eine Erlösung.“ Kuhel Khaled, 36, Theaterregisseur

Die Proteste finden mehrheitlich im schiitischen Süden und in der Hauptstadt Bagdad statt. Dass vor allem Schiiten demonstrieren, die im Irak knapp die Bevölkerungsmehrheit stellen, wird aber nicht unbedingt als Zeichen einer weiteren Spaltung zwischen den Sunniten und Schiiten gelesen. Abdul-Mahdi, der als religiös moderat gilt, ist Schiiit, die Regierung ist ebenfalls von schiitischen Parteien dominiert. Es sind also ihre „eigenen Leute“, die sich gegen sie erheben. Auch politisch verliert Abdul-Mahdi Rückhalt: Zwei der größten schiitischen Fraktionen im Parlament, angeführt von dem Geistlichen Moktada al-Sadr und Hadi al-Amiri, der vom Iran unterstützt wird, arbeiten nun gegen Abdul-Mahdi – vielleicht kommt es zu einem Misstrauensvotum. Und in den sunnitischen Landesteilen? Dort äußern manche Bewohner ihre Unterstützung, wagen sich aber selbst nicht auf die Straße. Zum Teil aus Angst, als IS-Anhänger diffamiert zu werden.

Die Demonstranten betonen, dass sie als Iraker und für den Irak auf die Straße gehen. Sie kämpfen für ein System, in dem sich die politische Führung an der Bevölkerung orientiert – derweilen versucht die aktuelle Regierung, die Demonstrationen mit Tränengas und Wasserwerfern zu beenden. Scharfschützen sollen auf Demonstranten geschossen haben. Am vergangenen Freitag und Samstag starben mindestens 74 Menschen. Die Demos werden noch viele Leben kosten, glaubt eine irakische Journalistin, die die Proteste begleitet. Sie ist sich aber auch sicher: „Die Leute werden nicht einfach wieder nach Hause gehen. Sie wissen, dann wird sich nichts ändern.“

 

Mehr Infos darüber, warum es der irakischen Bevölkerung, Wirtschaft und Demokratie heute so schlecht geht, gibt es hier

Titelbild: Ahmad Al-Rubaye/AFP via Getty Images

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