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„Die Abgeordneten sind korrupt, wie Mafiosi“

Seit Dezember protestieren in Peru vor allem Indigene gegen Präsidentin Dina Boluarte. Die Gewalt eskaliert. Worum es geht und wie das Land da rauskommen könnte, erklärt Jaime Borda vom Netzwerk Red Muqui

Proteste, Peru

fluter.de: Herr Borda, lassen Sie uns gleich zu Beginn zurückschauen. Wie kam es zu den Protesten in Peru?

Jaime Borda: Wir sind in Peru seit acht Jahren in einer permanenten politischen Krise. Seit 2016 hatten wir sechs Präsidenten. 2021 hatte Keiko Fujimori, die Tochter des ehemaligen Diktators Alberto Fujimori, haarscharf die Stichwahl gegen Pedro Castillo verloren. Wie 2016, als sie ebenfalls in einer Stichwahl unterlag, sprach sie von Wahlbetrug. Bis heute gibt es keine Beweise dafür. Aber im Kongress hat die Gruppe der Castillo-Gegner:innen die Mehrheit. Fujimori unternahm mehrere Anläufe, Castillo des Amtes zu entheben. Der Hauptvorwurf lautete, er sei ein korrupter, ineffizienter Präsident, der schlecht auf das Amt vorbereitet sei.

Der linke Gewerkschaftler Pedro Castillo kam als Hoffnungsträger für die ärmere und indigene Landbevölkerung an die Macht. War er wirklich so ein schlechter Präsident?

Tatsächlich hat Präsident Castillo während seiner Amtszeit schlechte Entscheidungen getroffen. Er hat sich mit unerfahrenen Leuten umgeben. Es gibt schwere Korruptionsvorwürfe. Seine Regierung war unberechenbar und instabil. Wir hatten fast jede Woche neue Minister. Die Regierung war nicht in der Lage, irgendeine Art von Reform oder Veränderung vorzuschlagen. Und der Kongress mit seiner rechtskonservativen Mehrheit hat ihn auch nicht regieren lassen.

Mindestens 67 Demonstrierende sind in Peru bisher ums Leben gekommen

Im Dezember ist die Situation im Parlament schließlich eskaliert.

Am 7. Dezember hielt Pedro Castillo eine Rede an die Nation. Er sagte, dass er den Kongress auflösen und per Dekret regieren würde, dass es Reformen in der Justiz und im öffentlichen Dienst geben werde. Das war verfassungswidrig und ein versuchter Staatsstreich. Castillo beging politischen Selbstmord – und lieferte dem Kongress den perfekten Vorwand. Der setzte ihn ab und ließ ihn verhaften. Innerhalb weniger Stunden hatten wir eine neue Präsidentin: die bisherige Vizepräsidentin Dina Boluarte.

Warum machte das die Peruaner:innen so wütend?

Der Kongress ist unglaublich unbeliebt in Peru. Die Kongressabgeordneten, die hinter Castillos Absetzung standen, sind korrupt, wie Mafiosi. Sie ließen sich wenige Stunden danach mit den Fahnen Perus im Hintergrund im Kongress fotografieren und feierten den vermeintlichen Triumph der Demokratie. Diese Bilder waren für viele Menschen, die Castillo gewählt hatten, eine Provokation. Als Dina Boluarte dann wenig später sagte, dass sie mit diesem so unbeliebten Kongress weiter regieren werde, begannen die Menschen im Süden, sich zu mobilisieren.

Was fordern die Protestierenden?

Zuerst beschuldigten sie Dina Boluarte, eine Verräterin zu sein, und forderten, Pedro Castillo wieder als Präsidenten einzusetzen. Mittlerweile verlangen immer mehr Menschen vorgezogene Wahlen, den Rücktritt von Boluarte und eine verfassunggebende Versammlung. Außerdem fordern sie Gerechtigkeit und Wiedergutmachung für die Opfer der Proteste.

Proteste, Peru (Fotos: Francisco Proner/VU/laif)
Die Polizei ist bei den Protesten immer dabei – oft gewaltsam (Fotos: Francisco Proner/VU/laif)

Mittlerweile sind mindestens 67 Menschen infolge der Gewalt während der Proteste gestorben. Wie kam es zu dieser hohen Zahl?

Das liegt vor allem an den Sicherheitskräften. Anfangs hofften wir noch, dass Präsidentin Boluarte die Situation mit einer versöhnlichen Botschaft beruhigen würde. Aber bei der ersten großen Demo in Andahuaylas erlaubte Boluarte den Einsatz von Polizeigewalt. Die Demonstrierenden versuchten dort, den Flughafen zu blockieren. Die Polizei begann, auf sie zu schießen. Auch einige Tage später in Ayacucho versuchten Protestierende, den Flughafen zu blockieren. Da genehmigte die Regierung nicht nur das Eingreifen der Nationalpolizei, sondern auch das der Armee. Es gibt Videos, die zeigen, wie Polizei und Armee Menschen auch außerhalb des Flughafens jagen.

Das war im Dezember. Auch einige Demonstranten griffen zu gewaltsamen Mitteln. Im neuen Jahr gingen die Proteste weiter, vor allem in der Region Puno.

Die Reaktion der Polizei war wieder brutal. In der Stadt Juliaca sind über 17 Menschen gestorben, für mich war das ein regelrechtes Massaker. Die Regierung leugnet, was passiert ist. Es gab keine Entschuldigung. Die Präsidentin, der Innenminister, der Premierminister – alle haben nur gesagt, dass das untersucht werden müsse.

Wie erklärt die Regierung die Toten?

Sie sagt, dass die Demonstrierenden anscheinend aufeinander geschossen hätten und dass es nicht die Polizei war: Man habe Geschosse gefunden, die die Polizei nicht verwenden würde. Aber Ärzte und Sachverständige widerlegten das. Die Regierung sagte auch, dass hinter den Protesten Terroristen steckten. Dann hieß es, es seien illegale Bergarbeiter. Dann Drogenhändler. Und im Fall des südlichen Puno hieß es: Bolivien und Evo Morales (Anm. d. Red.: Boliviens ehemaliger Präsident) hetzten die Leute auf, Bolivien hätte Waffen geliefert.

Proteste, Peru
Cusco, Februar 2023: Auch er protestiert gegen Präsidentin Dina Boluarte

Wer geht denn da wirklich protestieren?

Vor allem die Menschen in den indigenen und bäuerlichen Gemeinden im Süden Perus: Puno, Cuzco, Apurímac. Alte, Junge, Männer und auch Frauen. Sie marschieren dann mit ihren Kindern auf dem Rücken, die Aymara-Frauen haben ihre Kinder immer dabei, auch bei der Arbeit. Das ist Teil ihrer kulturellen Identität. Die Regierung hat daraus gemacht: Die Frauen benutzen Kinder als Schutzschilde.

In welchen Landesteilen gibt es Proteste?

Erst konzentrierten sich die Proteste auf die ländlicheren Regionen, dann kamen sie in die Großstädte. Im Januar und Februar marschierten Delegationen bis in die Hauptstadt Lima, um sich dort Gehör zu verschaffen. Es war die Rede davon, Lima einzunehmen. Dort beteiligten sich Studierende und Menschen aus den Arbeitervierteln Limas. Dann kehrten die Menschen wieder in ihre Regionen zurück. Gerade gibt es eine zweite Besetzung Limas, vor allem von Menschen aus Puno. Sie schlafen in den Räumen von Gewerkschaften, in Schulen oder bei Verwandten und gehen jeden Tag auf die Straße.

„Während der Proteste kam der ganze Rassismus ans Licht, den wir in Peru nie überwunden haben. Hier in Lima sagten sie: Da protestieren die Indios, diese Bauern. Erschießt sie!“

Ist es auch ein Kampf der Landbewohner gegen die Städter?

Die Bevölkerung in den ländlichen Regionen stellt Limas Zentralismus infrage. Während der Proteste kamen der ganze Rassismus und das Klassendenken ans Licht, die wir in Peru nie wirklich überwunden haben. Sie sagten hier in Lima: Da sind diese Indios zum Protestieren gekommen, diese Bauern. Erschießt sie! Sie verachten sie und beschimpfen sie auf der Straße, sagen: Verschwindet in eure Region. Ihr stinkt!

Sehen Sie eine Lösung für die Krise?

Schwierige Frage. Für viele scheint der einzige Ausweg der Rücktritt von Präsidentin Dina Boluarte und vorgezogene Neuwahlen. Alle seriösen Umfragen ergeben, dass mehr als 70 Prozent der Bevölkerung Boluarte ablehnen – und mehr als 90 Prozent den Kongress.

Wie stehen die Chancen auf ihren Rücktritt und Neuwahlen?

Schlecht. Diese Regierung, Präsidentin Dina Boluarte und der Kongress, haben klar gesagt, dass sie nicht gehen werden. Sie wollen bis 2026 bleiben, und sie sind bereit, dafür weiter die Proteste zu unterdrücken und Gewalt anzuwenden. Aber, auch wenn sich die Lage jetzt kurzzeitig entspannt hat, werden die Menschen nicht aufhören, sich zu mobilisieren.

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