Demonstrantinnen halten ihre Handylampen hoch

„Wir wollen alle das gleiche: nicht sterben“

Angeführt von Studierenden demonstrieren in Serbien seit Wochen Zehntausende gegen Korruption unter dem autoritär herrschenden Präsidenten Aleksandar Vučić. Was wollen sie – und könnten sie Erfolg haben?

Von Bartholomäus Laffert
Thema: Protest
25. März 2025

Wenige Minuten bevor auf den Straßen Belgrads Panik ausbricht, steht die Medizinstudentin Vanja Nedeljkov in einer Menge aus Tausenden friedlich hüpfenden Menschen. Die Sonne ist an diesem 15. März schon untergegangen, der Himmel ist dennoch rot erleuchtet vom Schein der Bengalos. Vanja hält ein selbst gemaltes Schild in die Höhe, das den serbischen Präsidenten Aleksandar Vučić mit Teufelshörnern zeigt. Daneben geschrieben steht: „Es erwartet dich die Hölle.“

Die 25-jährige Vanja ist an diesem Tag eine von mehr als 100.000 Demonstrierenden in Serbiens Hauptstadt, manche Schätzungen gehen sogar von über 300.000 Menschen aus. Es ist der bisherige Höhepunkt einer Protestwelle, die vor mehr als vier Monaten begann. Der Auslöser: Am 1. November 2024 stürzte das Vordach des gerade renovierten Bahnhofs in Serbiens zweitgrößter Stadt Novi Sad ein. 16 Menschen wurden getötet. Vanja, die in Novi Sad studiert, sagt: „Ich wohne nur 15 Minuten vom Bahnhof entfernt, es hätte genauso gut mich treffen können.“ Ihr sei schnell klar gewesen, dass die Korruption im Land schuld sei am Unglück.

Die Regierung weigerte sich zunächst, Verantwortung zu übernehmen 

Statt das Unglück aufzuklären, versuchte die serbische Regierung zunächst, die Umstände zu vertuschen. Präsident Aleksandar Vučić behauptete, das Vordach sei bei den Renovierungsarbeiten ausgelassen worden. Offizielle Verträge mit den zuständigen Unternehmen wurden zurückgehalten. Doch der Ingenieur Zoran Đajić legte offen, dass er die Regierung schon Monate vor dem Unglück vor Mängeln an der Fassade des Bahnhofs gewarnt habe. Zwar mussten inzwischen mehrere Politiker als Reaktion auf die Proteste ihre Posten räumen, wie zuletzt der serbische Ministerpräsident Milos Vučević, und die Staatsanwaltschaft für Korruptionsbekämpfung, deren Unabhängigkeit Kritiker:innen allerdings anzweifeln, hat Anklage gegen 13 Personen erhoben. Doch Präsident Vučić hat deutlich gemacht, dass er den Forderungen nach einem Rücktritt nicht nachkommen werde. Mitte März sagte er: „Um eine Übergangsregierung zu bekommen, müsst ihr mich töten.“

Nach dem Unglück fingen Studierende an, ihre Universitäten zu blockieren. Viele der Fakultäten im Land sind mittlerweile besetzt, auch mehrere Schulen. Am Morgen vor dem Protest in Belgrad tummeln sich Dutzende in gelben Westen in der Landwirtschaftsfakultät in Belgrad. Auf dem Boden liegen Matratzen, auf denen die Studierenden seit Wochen schlafen. In der Aula stehen auf Biertischen Essen und Getränke, die Unterstützer:innen den Studierenden gebracht haben. 

Besetzte philosophische Fakultät in Novi Sad

In Novi Sad haben Studierende die philosophische Fakultät besetzt und mahnen den Taten der Regierung mit einem Transparent 

Mittendrin steht die 28-Jährige Jovana Ilić. „Es ist das erste Mal, seit ich denken kann, dass die Menschen in Serbien ihre Angst ablegen“, sagt sie. Obwohl unter den Toten von Novi Sad auch eine Schülerin aus ihrem Heimatdorf sei, hätten sich die Menschen dort zunächst nicht getraut zu demonstrieren. „In Serbien musst du damit rechnen, dass du deinen Job verlierst oder keinen Arzttermin bekommst, wenn du etwas gegen den Präsidenten oder seine Partei sagst.“ 

Im jüngsten Korruptionswahrnehmungsindex von Transparency International erzielt Serbien die schlechtesten Ergebnisse seit 2012. Im Pressefreiheitsranking von Reporter ohne Grenzen ist Serbien innerhalb der vergangenen zehn Jahre von Platz 54 auf Platz 98 abgerutscht. Die staatlichen Sender werden allesamt von der Regierungspartei kontrolliert. Wahlen wurden zuletzt nachweislich manipuliert. Auch die Justiz diene der Regierungspartei, kritisieren die Studierenden. Wenn man sie fragt, was sie fordern, dann sagen sie: Wir wollen nicht mehr, als dass unsere staatlichen Institutionen ihren Job machen und sich an die Verfassung halten. 

Die Protestierenden kämpfen gegen die Korruption im Land 

Vanja und Jovana wollen keine Revolution. Es ist der einfache Ruf nach Rechtsstaatlichkeit und für ein Ende der Korruption, dem sich in Serbien in den vergangenen Wochen Hunderttausende angeschlossen haben. Zu dem Protest an diesem Tag kommen Bäuer:innen mit ihren Traktoren, Biker:innen auf ihren Motorrädern, Veteranen des Militärs. Da sind Studierende, die sich als links und progressiv begreifen. Da sind junge Männer, die Holzkreuze vor sich hertragen und übergroße Jesus-Fahnen. Da sind serbische Nationalisten mit riesigen Fahnen, auf denen ein Umriss der serbischen Landkarte inklusive des Kosovo abgebildet ist, worauf steht: „Keine Kapitulation“. Und da sind Tausende rot-blau-weiße Serbien-Fahnen. „Am Ende wollen wir alle das Gleiche“, sagt Medizinstudentin Vanja. „Nicht sterben. Und das ist in Serbien keine Selbstverständlichkeit.“ 

Der Protest an diesem Samstag findet um kurz nach sieben ein jähes Ende. Auf Videos ist zu sehen, wie die Menschenmenge schweigt zum Gedenken an die Opfer von Novi Sad und dann von einem Moment auf den anderen panisch auseinanderrennt. Zeugen berichteten serbischen Medien zufolge von einem plötzlichen Geräusch, das Schmerzen und Angst ausgelöst habe. Militärexpert:innen vermuten, dass von den Sicherheitskräften eine verbotene Schallkanone eingesetzt worden sein könnte. Vanja, die selbst vor Ort war, erzählt am nächsten Tag am Telefon: „Der Sound glich einem heranrasenden Riesensturm. Die Menschen um mich herum klagten über Schmerzen, Übelkeit, Schwindel.“ Auch sie selbst höre noch nicht wieder vollständig und habe Ohrenschmerzen. Aleksandar Vučić bestreitet derweil den Einsatz verbotener Waffen. Doch die Demonstrierenden glauben seinen Worten längst nicht mehr. 
 

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Titelbild: Filip Stevanovic/Anadolu via Getty Images