Ob Felix Günther* an diesem Montag verhindert, dass sich ein junger Mensch im Netz radikalisiert, wird er wohl nie erfahren. Was ihn aber positiv stimmt: dass er Djamila* in ein Gespräch verwickeln konnte. Djamila ist eine von über 40.000 Personen, die sich in einer privaten Facebook-Gruppe treffen, um ihre Alltagserfahrungen als gläubige Muslime in Deutschland zu teilen – und oft sind die nicht besonders gut. In den Posts berichten viele von Zweifeln im Umgang mit religiösen Praktiken, aber auch von Ablehnung und Diskriminierung, die sie im Alltag erfahren. Wie Djamila, die einmal eine Postfiliale nicht betreten durfte, weil sie ein Kopftuch trug. Auch in anderen Kommentaren spürt man: Viele junge Muslime und Musliminnen fühlen sich von der Mehrheitsgesellschaft ausgeschlossen. Und das macht sie zur Zielgruppe von Islamisten, die ihre Gefühle ausnutzen, um sie an radikale Weltanschauungen heranzuführen.
Damit es so weit nicht kommt, sitzt Felix Günther an einem unbekannten Ort in Berlin vor einem breiten Bildschirm und liest Facebook-Kommentare. Sein Ziel: mit Jugendlichen oder jungen Erwachsenen, die sich möglicherweise von extremistischen Ideologien blenden lassen, ins Gespräch kommen. Dazu durchstöbert der 32-Jährige Gruppen, in denen regelmäßig islamistisches Gedankengut verbreitet wird. Zum Beweis scrollt der Medienpädagoge durch die Gruppen, von denen viele das Wort „Allah“ oder „Muslime“ im Namen tragen und in denen sich neben vielen moderaten auch radikale Gläubige aufhalten. An einer Stelle ist vom „Blut unserer uigurischen Geschwister“ die Rede, woanders von der verdienten Strafe Allahs, die alle Ungläubigen treffen werde. Vielfach werden Videos geteilt, in denen salafistische Prediger sich direkt an ihre „Brüder und Schwestern“ wenden.
Allein was in den 18 Facebook-Gruppen geteilt wird, erreicht mehr als eine Million User
Insgesamt 18 „Fokusgruppen“ haben Günther und seine Kollegen und Kolleginnen identifiziert. Daneben beobachten sie auch ein Dutzend Instagram-Profile. Allein was in den 18 Facebook-Gruppen geteilt wird, erreicht mehr als eine Million User – zum größten Teil junge Menschen, darunter viele Teenager, die noch mitten in der Pubertät stecken. Die Gruppe also, die laut Sozialpsychologen am anfälligsten für extremistische Ideen ist und die durch falsches Handeln oft erst in die Radikalität getrieben wird.
Felix Günther geht erst mal sehr behutsam vor: Er sucht das Gespräch, auch mit Jugendlichen, die außerhalb ihrer Community schon als radikalisiert gelten. „Mein oberstes Gebot ist es, wertfrei zu kommunizieren.“ Also zuhören und ermutigen, statt zu kritisieren oder zu diskutieren. Nur so bestehe die Chance, Vertrauen aufzubauen, sagt Günther und lächelt. Dann beginnt er, Djamila eine Nachricht zu schreiben.
„Ein paar Monate haben wir versucht, bei Telegram Fuß zu fassen. Aber immer, wenn wir ins Gespräch gehen wollten, sind wir sofort aus der Gruppe geflogen“
Günther und seine sechs Kollegen und Kolleginnen betreiben sogenannte aufsuchende Sozialarbeit – nur dass sie dafür nicht an Schulen, in Jugendclubs oder Moscheen gehen, sondern sich in den Sozialen Medien umschauen. Das Modellprojekt des Düsseldorfer Trägers AVP e. V., das die Landeskommission Berlin gegen Gewalt seit Oktober 2017 fördert, heißt streetwork@online. Es ist bundesweit eines der ersten Präventionsprojekte, die sich auf Online-Radikalisierung konzentrieren. „Wir mussten bei null beginnen“, erzählt Projektleiterin Sonja Ebert*. Die 37-jährige Islamwissenschaftlerin verhehlt nicht, dass es viel Zeit kostet, sich im Netz die nötige Glaubwürdigkeit aufzubauen.
Dazu gehört, dass man die sprachlichen, theologischen und popkulturellen Codes der Szene kennt und beherrscht. Außerdem braucht man ein Verständnis dafür, wie sich Gläubige auf Arabisch anreden oder welche Vorstellungen vom Diesseits und Jenseits an die Begriffe dunya und achira geknüpft sind. Man sollte auch schon mal davon gehört haben, dass die Lieder, mit denen der sogenannte Islamische Staat gern seine Propagandavideos untermalt, Naschids heißen und bei manchen Jugendlichen äußerst beliebt sind. „Heute sind wir Teil der Community“, freut sich Ebert. Sie macht das auch daran fest, dass sich mittlerweile regelmäßig junge Frauen mit Fragen an streetwork@online wenden. In bestimmten Familien spielen traditionelle Geschlechterrollen eine große Rolle, weiß Ebert aus ihrer eigenen Zeit als aktive Online-Streetworkerin. Viele junge Frauen sind verunsichert, wie sie ihre Religion leben sollen, oder haben Angst, zu Hause oder im Freundeskreis anzuecken. „Diese Frauen im Gespräch in ihrer Identität zu bestärken oder notfalls an eine Beratungsstelle weiterzuvermitteln sehen wir als Erfolg.“
Viele Debatten finden nachts statt – da kommt die Arbeit an ihre Grenzen
Dass Jugendliche im Netz gegen extremistische Propaganda gestärkt werden sollen, hat die Bundesregierung 2016 in ihrer Strategie zur Extremismusprävention und Demokratieförderung zum Ziel erklärt. Mittlerweile schlägt sich das auch langsam in den Projektzahlen nieder. Über das Bundesprogramm „Demokratie leben!“ fördert der Bund seit Anfang des Jahres zehn Präventionsprojekte „mit explizitem Netzbezug“, wie ein Sprecher des zuständigen Familienministeriums mitteilt. Das ist fast jedes dritte der geförderten Präventionsprojekte. Auch bei dem zweiten großen Bundesprogramm der Regierung, „Zusammenhalt durch Teilhabe“, das vorrangig Vereine in ländlichen Regionen unterstützt, wächst der Bedarf an online verfügbaren Beratungs- und Bildungsangeboten.
Felix Günther von streetwork@online weiß um die Grenzen seiner Arbeit. Allein personell: Auf Facebook finden viele Debatten erst abends oder nachts statt. „Bei sechs halben Stellen ist klar, dass wir nicht immer unmittelbar reagieren können“, so Günther. Größere Sorgen mache ihm jedoch, dass die jüngeren Teenager inzwischen ganz anders kommunizieren. Auf TikTok oder Snapchat werde viel gepostet, aber kaum kommentiert. „Da müssten wir erst eine Strategie entwickeln.“
„In ein paar Jahren ist unsere Zielgruppe vielleicht schon auf ganz neuen Kanälen“, ergänzt der Streetworker. Schon heute treffen sich die radikalisierten Jugendlichen eher in Messenger-Chats wie Telegram. Und dort wollen sie unter sich bleiben. „Ein paar Monate haben wir probiert, dort Fuß zu fassen“, erinnert sich Günther. „Aber immer, wenn wir ins Gespräch gehen wollten, sind wir sofort aus der Gruppe geflogen.“ In den Facebook-Gruppen ist das den digitalen Streetworkern noch nicht passiert. Manchmal bekommen sie sogar Likes für ihre Antworten. Oder, wie von Djamila, einen Smiley.
*Aus Sicherheitsgründen wurden die Namen der Streetworker und von Djamila geändert.
Titelbild: Renke Brandt