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„Papa hat einen großen Fehler gemacht“

Als Michael vor acht Jahren einen Mord beging, war sein Sohn gerade mal drei. Seitdem sitzt er im Knast – und versucht trotzdem ein guter Vater zu sein

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In Deutschland haben laut Schätzungen rund 100.000 Kinder ein Elternteil hinter Gittern. In den meisten Fällen sind die Väter in Haft; nur knapp sechs Prozent der Gefangenen sind Frauen. Egal, ob Papa oder Mama im Gefängnis sitzt – Kinder leiden stark unter der Trennung und der Ungewissheit, wie es dem Elternteil in der Haft ergeht. Viele Kinder zeigen seelische und körperliche Auffälligkeiten, wie die europaweite „Coping-Studie“ zeigte.  Es gibt inzwischen in vielen, aber nicht allen Gefängnissen feste Besuchsregelungen für die Eltern, beispielsweise einmal im Monat. Oft finden diese Besuche in Räumen statt, die kinderfreundlich gestaltet werden sollen. Mütter von kleineren Kindern können in manchen Einrichtungen mit ihrem Kind zusammenleben – jedenfalls so lange, bis das Kind schulpflichtig wird.

Der Besucherraum der Justizvollzugsanstalt ist trist. Ausgetretener blauer Teppichboden, ein Tisch mit vier Stühlen. Ein Schwarz-Weiß-Bild an der Wand zeigt Londons Straßen, unerreichbare Ferne, daneben ein Holzkasten mit vergilbten Amtsmeldungen. Michael hat sich bereit erklärt, über seine Rolle als Vater hinter Gittern zu sprechen. Zum Schutz seiner Familie will der Mittvierziger anonym bleiben. 

„Ich habe einen Menschen getötet. Mit dieser Tat zerstörte ich nicht nur die Familie des Opfers, sondern auch meine eigene. Als ich 2010 zu einer lebenslangen Haftstrafe verurteilt wurde, war mein Sohn gerade einmal drei Jahre alt. Meine Ex-Frau nahm ihn zu den ersten Langzeit-Besuchen mit. Er saß auf meinem Schoß und verstand nicht, warum Papa nicht mit nach Hause kommen konnte. Die Gewissheit, meinen Sohn nur aus der Ferne aufwachsen zu sehen, versetzt mir bis heute einen tiefen Schmerz. Bitte nicht falsch verstehen: Ich möchte kein Mitleid. Ich habe die gerechte Strafe für den schlimmsten Fehler meines Lebens bekommen. Trotzdem haben mich die letzten acht Jahre hinter Gittern verändert. Ich bin heute ein anderer Mensch: Ich lasse weitestgehend die Finger von den Drogen, halte mich an die Regeln und habe eine Ausbildung begonnen. All das gelang mir vor der Haft leider nicht. 

Meine größte Motivation ist mein Sohn. Auch wenn unsere Ehe inzwischen geschieden ist und die Besuche meiner Ex-Frau fast aufgehört haben, blieb der Kontakt zu meinem Sohn immer bestehen. Das war auch meine einzige Bedingung bei der Scheidung. 

„Ich lasse weitestgehend die Finger von den Drogen, halte mich an die Regeln und habe eine Ausbildung begonnen. All das gelang mir vor der Haft leider nicht“ 

In der Zelle habe ich viele Bilder von ihm, die meisten hängen gut versteckt an der Innenseite meines Schrankes. Offen über seine Familien zu sprechen ist im Gefängnis meiner Erfahrung nach keine gute Idee: Es macht einen angreifbar und verletzlich. Zwei- bis dreimal pro Woche telefonieren mein Sohn und ich, manchmal wecke ich ihn sogar für die Schule. Und einmal pro Monat kommt er mich besuchen.

Freundschaft und Beziehungen gelten als Mittel zur Resozialisierung. Neben Brief- und Telefonkontakt gibt es deshalb auch die Möglichkeit sogenannter Langzeitbesuche. Dabei können die Gefangenen und ihre Partner mehrere Stunden am Stück gemeinsam verbringen – ohne Überwachung und in „wohnlich“ eingerichteten Zellen. Dieses Privileg haben nicht alle Häftlinge. Die wichtigsten Voraussetzungen sind in den meisten Bundesländern eine gute Führung und die positive Einschätzung durch einen Gutachter. Auch die Art des Verbrechens spielt eine Rolle. Wer wegen häuslicher oder sexueller Gewalttaten verurteilt wurde, hat eher schlechte Chancen auf einen Langzeitbesuch. Außerdem darf nicht jeder zu Besuch kommen, in manchen Bundesländern ist er nur für Ehepartner erlaubt oder für Menschen, die in einer längeren Beziehung leben.

In meinem Gefängnis gibt es seit fünf Jahren eine Vater-Kind-Gruppe. Hier können wir uns nicht nur mit einem Seelsorger und zwei ehrenamtlichen Betreuern austauschen, sondern auch zwei Stunden mit unseren Kindern verbringen. Dieser intime Rahmen ist für uns Väter sehr wichtig – Knast-Romantik gibt es nur in Filmen, zumindest ist das meine Erfahrung, Freunde findet man hier keine. Auch mein Sohn kann in der Schule nicht offen über mich und meine schreckliche Tat sprechen. Deshalb ist die Vater-Kind-Gruppe als geschützter Ort wirklich wichtig für uns. 

Wir treffen uns einmal im Monat in der großen Kirche im Zentrum des Gefängnisses. Zur Begrüßung gibt es einen Stuhlkreis: Wir sprechen über besondere Erlebnisse, zum Beispiel Schulausflüge oder Geburtstage. Danach bleibt Zeit zum Spielen und Reden. Zum Abschluss essen wir noch gemeinsam Abendbrot. Zu besonderen Festen wie Weihnachten oder Ostern basteln wir auch. Am liebsten spiele ich aber mit meinem Sohn Tischtennis oder Badminton. Dabei sprechen wir über seinen Alltag oder Probleme in der Schule. Mit elf Jahren steht er gerade am Anfang der Pubertät. Mädchen werden interessant, Hausaufgaben unwichtiger. Natürlich tauchen nun auch Probleme und Fragen auf, die man am liebsten mit seinem Vater besprechen möchte. Früher waren solche Männergespräche nicht möglich, bei den Besuchen war ja immer meine Ex-Frau dabei. Eine ziemlich unbefriedigende Situation, oft haben wir vor dem Kind gestritten. Und mein Sohn saß zwischen den Stühlen. 

 „Natürlich kennt er noch nicht alle grausamen Details. Verschweigen werde ich sie aber nicht. Ich stehe zu meiner Tat und weiß auch, dass ich meine Strafe verdient habe“

Seitdem mich mein Sohn alleine besuchen kommt, ist er viel offener und erzählt mehr. Es freut mich, dass er trotz meiner langen Haft immer noch ein großes Bedürfnis nach seinem Vater hat. Ich weiß aber, dass meine Eltern und seine Mutter sich gut um ihn kümmern und dafür sorgen, dass er seinen Weg geht und nicht dieselben Fehler macht wie ich. 

Die Gefängnisseelsorge hat in Deutschland eine lange Tradition, die Anfänge gehen bis ins 16. Jahrhundert zurück. Heute hat jedes Gefängnis mindestens einen Anstaltsseelsorger, dazu kommen oft noch ehrenamtliche Helfer. Die Seelsorger kommen dabei aus verschiedenen Konfessionen – sowohl katholische als auch evangelische Geistliche arbeiten im Gefängnis und seit einigen Jahren auch Imame, also muslimische Geistliche. Gottesdienste oder gemeinsame Gebete sind nur ein Teil der seelsorgerischen Arbeit. Die Betreuer bieten Gesprächsgruppen an, leiten Antigewalttrainings oder kochen gemeinsam mit den Inhaftierten. Anders als Gefängnispsychologen haben Seelsorger nicht das Ziel, „Therapie“-Ergebnisse zu erreichen (Radikalisierungsprävention spielt allerdings eine Rolle). Sie sind in erster Linie Vertrauenspersonen für die Häftlinge. Seelsorger unterliegen der Schweigepflicht und haben vor Gericht ein Zeugnisverweigerungsrecht.

Über meine Tat weiß er Bescheid. Anfangs habe ich ihm nur gesagt, dass Papa einen großen Fehler gemacht hat und dafür bestraft wird. Inzwischen hat er genauer nachgefragt und weiß, dass ich einen Mord begangen habe. Natürlich kennt er noch nicht alle grausamen Details. Verschweigen werde ich sie aber nicht. Ich stehe zu meiner Tat und weiß auch, dass ich meine Strafe verdient habe. Angst davor, dass mein Sohn den Kontakt abbricht, habe ich trotzdem nicht. Manchmal sprechen wir sogar schon über ein „Später“. Nach dem Ende der Haftzeit möchte ich die verlorene Zeit mit meinem Sohn nachholen. Vielleicht gehen wir mal hochseeangeln oder fahren zusammen in den Urlaub. 

Zurück in mein altes Leben und meine alte Umgebung will ich nicht. Am liebsten würde ich auf dem Land leben, fernab der Versuchungen einer Großstadt, ganz in Ruhe. Ein Job und eine kleine Wohnung wären auch toll. Natürlich bleibt die Sorge, dass ich rückfällig werde, wieder Drogen nehme und irgendwann im Knast lande. Zum Glück gibt es Bewährungshelfer, die mir nach so langer Zeit hinter Gittern helfen können, wieder Fuß zu fassen. Eine Garantie, dass es einfach wird, ist das aber nicht.“

Titelbild: Andreas Meichsner / laif 

 



 

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