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Klischee, lass nach

Lüsterne Lesbe auf Behindertenurlaub mit ihrer dicken besten Freundin: viel Arbeit für Sensitivity Reader. Sie klopfen Texte auf Vorurteile und Rassismus ab

  • 5 Min.
Sensitive Reading

Der russische Bösewicht, die sexgeile Lesbe oder die exotische Schönheit. In vielen Romanen wird Diversität zum Klischee. sensitivity-reading.de möchte das ändern. Autor*innen können dort nach Themen wie Rassismus, Muslimfeindlichkeit oder Behindertenfeindlichkeit suchen und eine betroffene Person auswählen, die sie gegen Honorar bei ihren Texten berät.

Die Idee kommt aus den USA und wird in Deutschland kontrovers diskutiert. Kritiker*innen sehen darin die Zensur von Autor*innen und das Ende der Literatur. Der Kolumnist Harald Martenstein bezeichnete die Plattform beispielsweise als „Literaturprüfstelle“: Sensitivity Reading würden die Vielfalt nicht fördern, sondern vielmehr einschränken, da Autor*innen dadurch nicht mehr frei schreiben könnten. Dabei lebe die Literatur gerade von Vielstimmigkeit und der persönlichen Meinung der Autor*innen. Für die Befürworter*innen wiederum sind Sensitivity Reader ein längst fälliger Schritt gegen Klischees und Diskriminierung.  Hier erzählen drei von ihrer Arbeit.

Victoria Linnea, Mitgründerin des Netzwerks und selbst Sensitivity Reader

Thema: Rassismus

Die Idee für unser Netzwerk ist spontan entstanden. Meine Kollegin Elif Kavadar und ich waren 2018 bei einem Literaturcamp. Dort haben sich Autor*innen mehr Diversität in Romanen gewünscht, aber wussten nicht, wie sie in ihren Texten authentisch über marginalisierte Menschen schreiben können. Weil Elif und ich schon Diskriminierungen erlebt haben und beide Buchmenschen sind – sie hat Germanistik studiert, ich arbeite als freie Lektorin –, haben wir daraufhin sensitivity-reading.de gegründet. Heute kümmern wir uns zu fünft um die Seite, alle ehrenamtlich. Auf der Website sind Sensitivity Reader gelistet. Sie gehören nicht nur selbst zu einer oder mehreren marginalisierten Gruppen, sondern haben auch eine Expertise in ihrem Bereich.

Wenn ich als Sensitivity Reader einen Text lese, markiere ich nicht nur, was diskriminierend ist, sondern erkläre auch, warum und welche Auswirkungen das hat. Asiatisch gelesene Menschen wie ich werden beispielsweise oft sehr devot oder sexualisiert dargestellt. Das ist entwürdigend und rassistisch. Ein weit verbreitetes Klischee ist auch, dass wir alle Nerds seien, meist Musiker*innen oder Mathematiker*innen. Abgesehen davon, dass das natürlich nicht stimmt, wirft man uns damit auch alle in einen Topf. 

„Asiatisch gelesene Menschen wie ich werden oft sehr devot oder sexualisiert dargestellt“

Obwohl Romane diese Diskriminierungen in der Gesellschaft reproduzieren können, hat die sensibilisierte Darstellung der Charaktere für große Verlage oft keine Priorität: Sie richten sich mehrheitlich an ein weißes Publikum. Sensitivity Reading ist ein politisches Thema, zu dem sich einige nicht eindeutig positionieren wollen. Es ist aber eine Entwicklung erkennbar, und immer mehr Publikumsverlage arbeiten mit Sensitivity Readern zusammen.

Trotzdem kommt unsere Arbeit nicht immer gut an. Es gibt Leute, die uns böse Mails schreiben und uns beschimpfen, weil wir angeblich Zensur betreiben. Dabei sagen wir immer, dass Autor*innen natürlich schreiben dürfen, was sie möchten. Wir wollen nur dafür sensibilisieren, dass man als Autor*in Verantwortung für seinen Text trägt. Bis heute lese ich in Geschichten das Wort „Schl***auge“. Das ist für mich und die meisten asiatisch gelesenen Menschen schmerzhaft.

Tristan Lánstad, Sensitivity Reader

Thema: Abneigung gegen dicke Menschen

Wenn ich in meiner Freizeit Bücher lese, fällt mir oft auf, dass dicke Menschen überhaupt nicht vorkommen. Oder nur in kleinen Rollen: die gemütliche Wirtin, die Knödel serviert, oder der dümmliche Witzbold. Eine beliebte Klischeefigur ist auch die dicke beste Freundin, die selbst keinen eigenen Charakter hat, aber immer lustig ist und die Protagonistin unterstützt. Gerne wird dann gesagt, sie sei zwar dick, aber trotzdem attraktiv. Warum? Weil wir in der deutschen Gesellschaft insgesamt ein negatives Bild von dicken Menschen haben: unästhetisch, faul, disziplinlos, gemütlich oder unhygienisch. Das hat auch damit zu tun, dass wir Gesundheit und die Vorstellungen, die wir davon haben, so sehr glorifizieren. Der vermeintlich perfekte Mensch ist nicht dick, hat keine Behinderungen oder psychische Krankheiten.

Vielen ist nicht klar, dass sich diese realen Diskriminierungen auch in erfundenen Geschichten widerspiegeln. Ich selbst schreibe beispielsweise Fantasy-Geschichten und weiß, dass man da häufig über Dinge schreibt, mit denen man keine persönlichen Erfahrungen hat. Ich kann natürlich dazu recherchieren, aber vieles denke ich mir aus. Das ist ja der Kern von Fantasy.

 „Wir haben in der deutschen Gesellschaft ein negatives Bild von dicken Menschen: unästhetisch, disziplinlos, unhygienisch“

Nur ist meine Fantasie nicht frei: Jede erfundene Welt ist ein Konstrukt unserer Vorstellung und wird dementsprechend stark von dem geprägt, was wir kennen. Deswegen gibt es auch in Fantasy-Geschichten viele fettfeindliche Klischees.

Die Bücher des mittlerweile verstorbenen britischen Schriftstellers Terry Pratchett sind im deutschen Sprachraum sehr beliebt. Mir selbst gefallen sie auch gut, ich muss da oft lachen. Aber auch Pratchett schrieb immer wieder Charaktere, die durch ihr Dicksein negativ dargestellt werden. Oder welche, die Gewicht verlieren und für die plötzlich alles besser wird. Beispielsweise in dem Roman „Einfach göttlich“ mit dem Protagonisten Brutha, der so beschrieben wird: „prankenartige Hände, ein tonnenförmiger Leib und baumstammdicke Beine, die in Spreizfüßen enden“. Er verliert bei einer Reise durch die Wüste einen Großteil seines Gewichts und wird gleichzeitig der Prophet des Gottes Om. Ganz so, als ob er das als dicker Mensch nie erreicht hätte.

Alexandra Koch, Sensitivity Reader und Ehrenamtliche der Plattform

Thema: Behinderung

Schon bevor ich Sensitivity Reader wurde, habe ich in meinem Blog Bücher rezensiert. Dass ich im Rollstuhl sitze, habe ich dabei lange nicht erwähnt. Ich hatte Angst, dass das sonst zum Hauptthema wird und ich nur darauf reduziert werde. Im Stillen ärgerte mich aber immer, wie einseitig Menschen mit Behinderungen oft dargestellt werden.

In der sechsten oder siebten Klasse mussten wir extra wegen mir die „Vorstadtkrokodile“ lesen, weil da ja auch ein Junge im Rollstuhl dabei ist. Das Buch fand ich ehrlich gesagt furchtbar. Der Junge ist ein ganz klischeehafter Behinderter, der nur traurig am Fenster sitzt. Ich weiß noch, wie schade ich es fand, dass er die einzige Figur war, in der ich mich wiederfinden sollte.

 „Mich nerven Begriffe wie der ‚Behindertensessel‘ oder der ‚Behindertenurlaub‘. Ernsthaft?“

Okay, das Buch ist aus den Siebzigern. Aber noch heute werden Menschen mit Behinderung sehr passiv und traurig dargestellt und haben oft sonst keine anderen Eigenschaften. Gerne wird das auch benutzt, um Drama zu erzeugen. Zum Beispiel bei „Ein ganzes halbes Jahr“: Da geht es um einen Millionär, der nach einem Unfall im Rollstuhl sitzt. Das Buch ist wirklich ein buntes Potpourri aus Klischees. Angefangen bei der Wortwahl, wenn es heißt, er sei an den Rollstuhl „gefesselt“. Dadurch wird suggeriert, Menschen im Rollstuhl seien bemitleidenswert und hilflos. Oder Sätze wie „Natürlich ist er schlecht drauf, er ist schließlich behindert“. Als ob Menschen mit Behinderung automatisch ein freudloses und weniger wertvolles Leben führen würden. Zum Teil war das so schlecht geschrieben, dass ich lachen musste. Das Buch ist übrigens ein Bestseller.

In vielen Romanen beobachte ich auch eine sprachliche Trennung der Menschen mit Behinderung von den „Gesunden“. Mich nerven zum Beispiel Begriffe wie der „Behindertensessel“ oder der „Behindertenurlaub“. Ernsthaft? Also ich sitze auch im normalen Sessel und fahre in den normalen Urlaub. Die Menschen mit Behinderung, die ich kenne, haben nicht dieses leidvolle Leben, das nur von ihrer Behinderung dominiert wird. Aber in der Gesellschaft wird das leider häufig so kommuniziert. Das muss sich ändern.

Titelbild: Bureau Chateau / Jannis Pätzold

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