fluter.de: Im neuseeländischen Christchurch hat ein Attentäter 50 Muslime getötet. Würden Sie sagen, dass Rassismus gegen Muslime seitdem in der deutschen Öffentlichkeit stärker thematisiert wird?
Iman Attia: Wer ist „die deutsche Öffentlichkeit“? In der muslimischen deutschen Öffentlichkeit ist das Thema schon lange bekannt. Nach meinem Eindruck trägt die Berichterstattung aber dazu bei, Menschen, die bislang Rassismus geleugnet haben, wachzurütteln. Einige glauben erst, dass wir es mit einem ernsthaften Problem zu tun haben, wenn sie von Gewaltausbrüchen hören. Den Medien kommt deswegen eine große Verantwortung zu, Rassismus zu thematisieren – und zwar nicht erst, wenn Menschen unmittelbar dadurch sterben. Muslim*innen erfahren täglich verbale und körperliche Angriffe in Deutschland. Etwa wenn ihnen das Kopftuch vom Kopf gerissen wird, sie in den Bauch geboxt oder beschimpft werden, um nur einige Normalitäten zu benennen.
Was würden Sie jemandem antworten, der sagt: „Es gibt keinen antimuslimischen Rassismus, denn der Islam ist ja keine Rasse .“
Das ist Unsinn, denn biologisch gibt es ohnehin keine „Rassen“. Im Rassismus geht es auch nicht um „Rassen“, sondern darum, dass Menschen aufgrund eines Merkmals „rassifiziert“, also zu einer einheitlichen Gruppe gemacht werden. Dabei kann es mal die Religion sein, die der Grund dafür ist, dass Menschen als „anders“ wahrgenommen werden. Mal ist es die Kultur, mal die Biologie. Aber die Logik ist immer dieselbe.
Nämlich?
Rassismus funktioniert nach einem Dreiklang: Erstens: „Sie müssen alle so sein, weil ihre Religion/Kultur/Biologie ihnen das vorschreibt“ (Essentialisierung). Zweitens: „Sie sind alle gleich“ (Homogenisierung). Drittens: „Sie sind anders als wir“ (Dichotomisierung). Und meist bedeutet „anders“ eben auch „weniger gebildet, fortschrittlich, zivilisiert“.
„Wenn Sie aufgrund Ihres Namens eine Wohnung kriegen und ich nicht, haben Sie nicht gewollt rassistisch gehandelt. Trotzdem haben Sie von Rassismus profitiert“
In den Medien liest man die unterschiedlichsten Begriffe, wenn es um Vorurteile gegen Muslime geht: Islamfeindlichkeit, Muslimfeindlichkeit, Islamophobie.
Diese Begriffe betrachten eher die Spitze des Eisbergs: nämlich die körperlichen und verbalen Übergriffe. Sie lenken den Blick eher auf die Vorurteile des Einzelnen. Dieser Blick bestimmt dann auch, welche Maßnahmen sie dagegen empfehlen: Programme, die Menschen helfen sollen, ihre Einstellungen zu überdenken.
Sie selbst benutzen eher den Begriff des „antimuslimischen Rassismus“. Warum?
Hinter dem Begriff „Rassismus“ steht die Idee, dass nicht nur der oder die Einzelne das Problem ist. Und dass wir viel früher ansetzen müssen, um zu verstehen, woher Hass und Übergriffe auf Muslime kommen. Es gibt Diskurse und eine Gesellschaftsstruktur, die dafür sorgen, dass die Konsequenzen meines Handelns rassistisch sein können – selbst wenn ich das gar nicht will.
Können Sie ein Beispiel für diesen unbewussten Rassismus geben?
Wenn Sie aufgrund Ihres Namens eine Wohnung kriegen und ich nicht, haben Sie nicht gewollt rassistisch gehandelt. Trotzdem haben Sie von Rassismus profitiert.
Wäre ein Programm, das unserem fiktiven Vermieter hilft, seine Vorurteile zu überdenken, dann nicht eine gute Idee?
Ja, aber es reicht eben nicht. Viele Jugendliche machen Rassismuserfahrungen in der Schule. Natürlich würde ich auch sagen, wir müssen der Lehrerin klarmachen, dass sie Kinder nicht aufgrund ihrer Herkunft anders behandeln soll. Doch selbst die sensibilisierteste Lehrerin wird irgendwann aufgeben, wenn sie ein Curriculum unterrichten muss, das Rassismus reproduziert. Deshalb sage ich: Wir müssen die Strukturen anschauen. Und die historischen Bedingungen, die diese Strukturen begünstigt haben.
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Dann lassen Sie uns das tun: Wo liegen die Ursprünge des antimuslimischen Rassismus?
Kurz gesagt: im Jahr 1492.
Also in dem Jahr, in dem die „Reconquista“ – die Rückeroberung der Iberischen Halbinsel durch die Christen – mit der Einnahme Granadas endete?
Ja, nur dass es eben keine „Rückeroberung“ war, sondern eine erstmalige Eroberung. Der Begriff „Reconquista“ ist erst hinterher geprägt worden. Er ist eine Interpretation, und dass Sie ihn so übersetzen, zeigt, wie tief diese Wahrnehmung verankert ist: „Europa war schon immer christlich, und Muslime sind von außen eingedrungen.“ Dabei gab es damals keine Einheit, die sich als christliches Spanien definiert hätte und die es „zurückzuerobern“ galt.
Ist es nicht normal, dass Christen die neu ankommenden Muslime zumindest anfangs als „anders“ wahrgenommen haben?
Der Mittelmeerraum war seit Jahrhunderten ein geteilter Kulturraum. Man kannte sich. Seit dem Jahr 711 herrschten arabische Muslime über große Teile der Iberischen Halbinsel. Fast 800 Jahre lang lebten Juden, Christen und Muslime dann unter muslimischer Herrschaft vergleichsweise friedlich zusammen. Es gab viele Kooperationen, die Wissenschaft blühte, man heiratete, konvertierte, trieb Handel. Natürlich waren nicht alle gleich und gleichberechtigt, aber das System ist für die damalige Zeit doch revolutionär gewesen.
Was änderte sich 1492?
Vorher verliefen die Loyalitäten nicht unbedingt entlang der Religion. Christen verbanden sich mit Muslimen gegen andere Christen. Es gab eine gewisse Durchlässigkeit. Wenn jemand konvertierte, zählte die Person von da an zu der neuen Gemeinschaft. Nach 1492 wurde die Religionszugehörigkeit plötzlich zu einer Art unveränderlichem Wesensmerkmal – wie eine „Rasse“ eben. Man konnte sie nicht mehr loswerden. Und: Juden und Muslime standen plötzlich unter dem Generalverdacht, aufgrund ihrer Religion der christlichen Krone gegenüber gar nicht loyal sein zu können.
„All das Wissen und die Bilder von Muslimen, die damals entstanden sind, haben sich in Liedern, Romanen oder wissenschaftlichen Texten festgesetzt“
Was waren die Folgen?
Es gab erst Zwangskonversionen, dann Vertreibungen und schließlich Deportationen. Zunächst von Juden und Jüdinnen, später auch der Muslime und Musliminnen, die damit aus Europa fast vollständig entfernt worden sind. Das Geld, das dabei konfisziert worden ist, wurde übrigens verwendet, um Amerika zu erobern.
Wie viel haben diese Ursprünge mit dem heutigen antimuslimischen Rassismus zu tun?
All das Wissen und die Bilder von Muslimen, die damals entstanden sind, haben sich in Liedern, Romanen, wissenschaftlichen Texten und so weiter festgesetzt. Ein bestimmtes Wissen über „uns“ und „die Muslime“ wurde zur Wirklichkeit. Wie oft hören wir heute noch die Unterstellung, Muslime könnten sich nicht „integrieren“, weil sie kulturell so anders seien!
Was entgegnen Sie Islamkritikern, die sagen: „Es muss aber möglich sein, den Islam zu kritisieren“?
Wenn jemand unbedingt „den Islam“ kritisieren will, werde ich misstrauisch. Es gibt Hunderte Interpretationen und Lebensformen. Wogegen genau habe ich also eigentlich etwas? Natürlich muss es möglich sein, konkrete Praktiken von Muslimen oder Glaubensüberzeugungen zu kritisieren. Doch selbst bei den katholischen Missbrauchsfällen, die ja durchaus auch strukturelle Gründe wie das Zölibat haben, käme keiner auf die Idee, von „Katholizismuskritik“ zu sprechen. Sie sagen ja nicht „Ich will den Katholizismus kritisieren“ und suchen dann nach Bibelstellen und Personen, die Ihnen nicht passen. Daher sollte man das auch beim Islam vermeiden.
Auf bpb.de geht’s weiter:
– Postmigrantisches Deutschland? Rassismus, Fremdheit und die Mitte der Gesellschaft
Titelbild: Daniel Biskup/laif