Bis vor drei Jahren führte Hanna ein anderes Leben. Sie hatte einen Job als Pharmavertreterin und wohnte mit ihrem Freund in Kyjiw. Er war Unternehmer und verbrachte jeden Tag an ihrer Seite, abends gingen die beiden gemeinsam schlafen.
Dann kam der 24. Februar 2022 – und alles wurde anders. „Der Krieg hat unser Leben radikal verändert“, sagt Hanna in einem unserer Chatgespräche auf Telegram. Nach dem Überfall der russischen Truppen hat ihr Partner sich der ukrainischen Armee angeschlossen. Sie harrt in der gemeinsamen Wohnung aus, allein und in permanenter Sorge um sein Leben.
So wie Hanna geht es Millionen von Frauen, deren Partner an der Front kämpfen. Auch im dritten Kriegsjahr gilt für ukrainische Männer im Alter von 18 bis 60 Jahren das Ausreiseverbot. Zuletzt hat die Regierung das Mobilisierungsgesetz noch weiter verschärft: Das Einberufungsalter wurde von 25 auf 18 Jahre herabgesetzt, und das Recht auf Entlassung nach 36 Frontmonaten wurde gestrichen. Zahlreiche Frauen im Land sind weiterhin auf sich allein gestellt, viele von ihnen leben als Kriegsflüchtlinge oder Binnenvertriebene fernab ihrer Heimat.
Hanna will nicht nochmal alles verlieren durch den Krieg
Für Hanna stand fest, dass sie in Kyjiw bleiben würde. Sie weiß, was es heißt, ihr Zuhause zu verlieren: Ihre Geburtsstadt Donezk liegt im Donbass und wurde neben der Oblast Luhansk und der Krim bereits 2014 von Russland besetzt. Bei den Kampfhandlungen in den darauffolgenden acht Jahren starben ca. 3.000 Menschen, mehr als 850.000 wurden vertrieben. „Für uns hat dieser Krieg vor zehn Jahren begonnen“, sagt Hanna. In Kyjiw hatte sie sich ein neues Leben aufgebaut: Sie schloss ihr Medizinstudium ab, arbeitete als Ärztin und später als Pharmavertreterin. 2017 lernte sie ihren Partner kennen, kurze Zeit später zogen die beiden zusammen. Durch den Verlust ihrer Heimat habe sie gelernt, nach vorne zu schauen, sagt sie.
Als Russland den Krieg vor zwei Jahren dann auf die gesamte Ukraine ausweitete, geriet auch ihr neues Leben aus den Fugen. Ihr Partner wurde über Nacht zum Soldaten, und auch Kyjiw geriet immer wieder unter Beschuss. Inmitten dieser chaotischen Wochen traf Hanna eine Entscheidung: Sie kündigte ihren Job als Pharmavertreterin – und gründete ein Start-up für Sexspielzeug. Ein Start-up für Sexspielzeug – mitten im Kriegsgebiet? Wie kommt man auf so eine Idee?
„Ich hatte schon länger den Wunsch, ein eigenes Unternehmen zu gründen“, erzählt Hanna bei einem Telegram-Call. Als der Krieg ausbrach, sei ihr klar geworden, dass sie ihre Pläne nicht länger aufschieben dürfe. Die Idee zu einem eigenen Onlineshop für Sextoys sei schließlich entstanden, weil sich ihre Partnerschaft infolge des Kriegs verändert hatte. „Wir mussten von heute auf morgen lernen, eine Fernbeziehung zu führen“, sagt Hanna. Das sei für viele Paare eine Zerreißprobe. Zu der psychischen Belastung durch den Krieg komme die Einsamkeit, die Sehnsucht nach dem Partner und nach körperlicher Nähe: „Viele halten dem Druck nicht stand.“
„Ich behaupte nicht, dass fehlender Sex der Hauptgrund für die Trennungen ist, aber für viele ist ein wichtiger Teil der Beziehung“
Je länger der Krieg andauert, das zeigt die Statistik des Justizministeriums in Kyjiw, desto zermürbender sind die Auswirkungen auf Partnerschaften. Obwohl sich anfangs noch eine gegenläufige Tendenz beobachten ließ – in den ersten Kriegsmonaten verzeichneten ukrainische Standesämter einen regelrechten Heiratsboom –, stieg die Scheidungsrate im Jahr 2023 um 16 Prozent an. Hinzu kommt eine große Dunkelziffer unverheirateter Paare, darunter queere Menschen, die in der Ukraine nicht die gleiche rechtliche Anerkennung erfahren.
„Ich behaupte nicht, dass fehlender Sex der Hauptgrund für die vielen Trennungen ist“, sagt Hanna. Aber er sei für viele ein wichtiger Teil der Beziehung. Daran hätte auch der Krieg nichts geändert. Sie suchte deshalb nach Möglichkeiten, wie Paare trotz Distanz Nähe erleben können. Zum Beispiel Couple-Toys, die sich über das Smartphone miteinander synchronisieren und steuern lassen.
Sie will Tabus über Sexualität brechen
Auf Instagram vermarktet Hanna ihre Produkte, schreibt über Long-Distance-Sex, Selbstbefriedigung – und LGBTQI+-Leben in der Ukraine, denn Hanna richtet ihr Angebot gezielt auch an die LGBTQI+-Community. Die gelernte Ärztin will verkaufen, aber auch die Tabus um Sexualität brechen. „In der Sowjetunion wurde das Thema totgeschwiegen“, sagt sie. Die Folgen spüren insbesondere queere Menschen bis heute: Jahrzehntelang hat der Staat die LGBTQI+-Community im Land ignoriert, zeitweise sogar – wie Russland – versucht, ihre „Propaganda“ per Gesetz zu unterbinden. Obwohl die gesellschaftliche Akzeptanz in den vergangenen Jahren gestiegen ist, erleben queere Menschen in der Ukraine nach wie vor Diskriminierung.
Aus manchen Kreisen erhält Hanna Zuspruch. Viele Frauen würden ihr schreiben, dass sie ein Vorbild in Sachen Selbstbestimmung sei. Den Menschen täte es gut, sich mit etwas anderem zu beschäftigen als dem Krieg. Auch ihr Partner unterstütze sie, sagt Hanna: „Wir sind stolz aufeinander und halten an unserer Beziehung fest, auch wenn die Umstände schwierig sind.“
Es gibt aber auch Kritik: Manche finden es unpassend, dass sie das Thema Sex in diesen Zeiten so in den Mittelpunkt stellt. „Es gibt auch Hasskommentare“, sagt Hanna. So werde ihr auch vorgeworfen, dass sie Profit aus dem Kriegsthema schlagen würde. „Das kommt vor, wenn ich über meinen Partner und unsere Fernbeziehung spreche“, sagt sie. Ein anderer Vorwurf betrifft ihre Ausbildung: Einige seien der Meinung, sie solle lieber als Ärztin arbeiten und sich um kranke und verwundete Landsleute kümmern.
Hanna selbst will sich von dem russischen Angriffskrieg nicht diktieren lassen, wie sie zu leben hat. Ihr bleibt nichts anderes übrig, als nach vorne zu schauen, sagt sie: „Der Krieg geht möglicherweise noch lange. Meine Zeit hier ist endlich.“
Fotos: privat