Am Strand in Frankreich fängt alles an. Im Sommer 2020 liegt Franzi mit ihrem Freund am Meer und sonnt sich. Ein älterer Mann schaut zu ihr rüber. Als Franzi sich das Bikinioberteil auszieht, starrt er sie lüstern an. Irgendwann richtet er seinen Badeplatz extra so ein, dass er sie gut im Auge hat. Neben ihm liegen seine Frau, Kinder und Enkelkinder. Jetzt, über ein halbes Jahr später, wird Franzi immer noch wütend, wenn sie diese Geschichte erzählt. Ein Gefühl, das sie mit vielen Frauen teilen dürfte, die bereits Catcalling erlebt haben. Catcalling, also verbale sexuelle Belästigung sowie sexualisierte Hand- und Körperbewegungen und Anstarren, geht meistens von Männern aus. Viele Catcalls dauern nur wenige Sekunden.
Nach ihrem Erlebnis hört sich Franzi im Freudinnenkreis um und merkt: Fast jede hat Ähnliches zu berichten. Um ihrer Wut Luft zu verschaffen, gründet sie noch vom Strand aus den Instagram-Account „catcallsof.bonn“. Dort sammelt Franzi Erlebnisse von Menschen, die Catcalls erlebt haben, und bringt sie mit Kreide auf die Straße – da, wo die Übergriffe passiert sind. Meistens sind es junge Frauen zwischen 25 und 35, die ihr schreiben, aber auch jüngere Frauen sind betroffen: Sexualisierte Blicke, verbale Attacken, zum Teil werden die Männer sogar körperlich übergriffig, greifen Frauen ungefragt an die Brüste, den Hintern oder in den Schritt.
„Sehr oft sind Catcalls fast keine Catcalls mehr, sondern strafbare tätliche sexuelle Übergriffe oder Beleidigungen – das geht fließend ineinander über“, sagt Franzi. Anders als beispielsweise in Frankreich ist Catcalling in Deutschland nicht strafbar – doch eine Petition, die das seit dem Sommer 2020 fordert, liegt inzwischen dem Bundestag vor.
Mit Mitstreiterinnen kreidet Franzi sexuelle Belästigung an – buchstäblich
An diesem Samstagmittag ist Franzi in der Bonner Innenstadt unterwegs. Einen Plastikeimer Kreide in der einen, das Handy in der anderen Hand. An einem Supermarkt in der Einkaufspassage bleibt sie stehen. Kreiden gehe sie nur in Gesellschaft, so die 30-Jährige – aus Sicherheitsgründen. Heute ist ihre Freudin Judith mit dabei. Gemeinsam überlegen die beiden, wie sie den Spruch am besten positionieren. Nach einer Weile steht „Er nannte sie N*tte“ mit dem Hashtag „StopptBelästigung“ auf dem Boden. Schon während sie schreiben, drehen sich einige Menschen um, runzeln die Stirn, schütteln den Kopf, nur wenige bleiben stehen, um zu lesen. „Es kommt auch vor, dass Menschen uns beschimpfen“, erzählt Franzi. „Einmal hat ein Mann direkt auf den Spruch gespuckt.“ Je nach Tagesform suche sie dann den Dialog, denn sie möchte nicht nur anprangern, sondern aufklären. Dazu postet sie anschließend ein Bild von dem Spruch samt Hintergrundgeschichte auf Instagram. Knapp 4.500 Menschen folgen ihrem Account, der einer von 87 aktiven in Deutschland ist, die Belästigungen öffentlich machen. Jeden Tag bekommt Franzi ein bis zwei Erlebnisse geschickt. „Du musst mal wieder geleckt werden“, „Wollt ihr blasen?“ oder „Dein Arsch gehört mir“ sind nur einige Beispiele.
Das Risiko, als Frau sexuelle Übergriffe zu erleben, ist in Deutschland hoch. Laut einer Studie des Bundesfamilienministeriums haben rund 63 Prozent der Frauen bereits selbst einen erlebt oder bei anderen mitbekommen. Die meisten Taten geschehen auf öffentlichen Plätzen, am Arbeitsplatz oder im Nahverkehr. Obwohl sich Frauen oft nachts, etwa an dunklen Orten, unsicher fühlen – Übergriffe passieren genauso mitten am Tag und selbst wenn man in Gruppen unterwegs ist. Es sind eben nicht immer Fremde, von denen die Übergriffe ausgehen, zum Teil sind es Freunde, Bekannte, Arbeitskollegen. Betroffenen wird oft selbst die Schuld für die Übergriffe gegeben: Man hätte die „falschen“ Signale gesendet, sich „falsch“ angezogen. Solche Bemerkungen tragen dazu bei, ein übergriffiges Verhalten als normal erscheinen zu lassen.
Das Sicherheitsempfinden betroffener Frauen ist oft langfristig beeinträchtigt, sind sich Franzi und Judith sicher. Obwohl sie selbst keine Angst haben, wenn sie draußen unterwegs sind, treffen sie Vorsichtsmaßnahmen: rufen den Freund an, faken einen Anruf, teilen ihren Livestandort, schreiben eine Nachricht, wenn sie zu Hause sind. Denn sie wissen: Nicht immer bleibt es „nur“ bei einer verbalen Belästigung. Franzi glaubt: „Männer, die mir hinterherrufen: ‚Ey, dich ficke ich auch noch‘, sind eine potenzielle Gefahr.“ Doch es sind nicht nur die offensichtlich aufdringlichen Männer, die eine Gefahr darstellen.
Sexuelle Übergriffe nehmen Frauen das Sicherheitsgefühl – was kann man dagegen tun?
Maria ist 18, als sie ihr Studium in Münster anfängt. Nach einer Clubnacht ist sie allein auf dem Weg nach Hause. Ein junger Mann spricht sie an. Er wirkt nett, nicht aufdringlich. Maria fühlt sich sicher. Sie laufen ein Stück gemeinsam. Vor der Haustür angekommen, bittet der Mann, die Toilette benutzen zu dürfen. Maria denkt sich nichts dabei. Sie steht in der Küche, schmiert sich ein Brot, als der Mann wieder aus dem Badezimmer kommt. Maria will sich verabschieden, bedankt sich fürs Nachhausebringen. Doch der Mann geht auf sie zu, sagt: „Ich geh jetzt nicht nach Hause.“ Er kommt Maria immer näher, bedrängt sie. Sie bekommt Panik, droht damit, nach ihrem Mitbewohner zu rufen. So schafft sie es, den Mann aus der Wohnung zu drängen. Ihr Sicherheitsgefühl habe sich durch dieses Erlebnis nachhaltig verändert, sagt die heute 26-Jährige. Es sei selbstverständlich geworden, dass sich in der Brust was zusammenziehe, wenn sie bestimmten Männern begegne, und dann ganz geduckt durch die Straßen zu laufen, um bloß keine Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Catcalling erlebt Maria regelmäßig: „Wenn ich alleine unterwegs bin und mich eine Gruppe Männer komisch von der Seite anlabert und dabei Knutschgeräusche macht, fühle ich mich schutzlos und ausgeliefert.“
Um den öffentlichen Raum für Frauen sicherer zu gestalten, gibt es verschiedene Ansätze: Da ist die Idee von gender planning, also einer Stadtplanung, die sich an Frauen orientiert, sie aktiv miteinbezieht und zum Beispiel auf Unterführungen verzichtet, beleuchtete Fußwege und Haltestellen im Blick hat. Doch es geht noch konkreter: Die Hilfsorganisation Plan International hat im vergangenen Jahr in vier deutschen Großstädten Frauen danach gefragt, wie sicher oder unsicher sie bestimmte Orte einstufen. Auf einer Onlinekarte konnten die Beteiligten Pins setzen und dort eine Bewertung hinterlassen, entsprechend sind die Orte grün (sicher) oder rot (unsicher) eingefärbt. So gibt es auf den Kölner Ringen, in der Nähe der Kölner Innenstadt, viele Pins mit dem Hinweis auf „sexuelle Belästigung“. Eine Frau schreibt: „Ich kann nicht zählen, wie oft ich schon übergriffige Männer (...) erlebt habe.“
Ist man in Köln unterwegs, sieht man an einigen Geschäften, Cafés, aber auch Bankfilialen einen großen Aufkleber: Eine Frauenfigur mit orangefarbenen Haaren, roten Lippen, grünen Augen ist darauf zu sehen, einen Speer in der Hand. Auf ihrem schwarzen Oberteil steht groß: „Edelgard schützt“. Dieser Aufkleber verweist auf 155 Orte in Köln als Schutzräume für Frauen, die von sexualisierter Gewalt betroffen oder bedroht sind. Vor Ort finden Betroffene bei geschulten Mitarbeitenden Unterstützung. Alle „Edelgard schützt“-Orte sind auf einer Onlinekarte einsehbar.
Zurück in Bonn. Franzi und Judith sind inzwischen am Hauptbahnhof angekommen, zwei Hunde bellen sie an. Als sie mit ihrer Kreide loslegen, werden sie leicht misstrauisch von Beamten des Ordnungsamtes beäugt. „Alter, wie soll man sonst jemanden kennenlernen“, steht nach ein paar Minuten auf dem Boden. So habe ein Mann im Zug auf die Abfuhr einer jungen Frau reagiert.
Viele Frauen würden nicht über solche Erfahrungen sprechen, viel werde verdrängt, erzählen Judith und Franzi. „Wenn man danach fragt, sagen die meisten: Ich habe das noch nie erlebt. Wenn sie dann drüber nachdenken, fällt aber fast jeder mindestens ein Vorfall ein.“
An einer Unterführung kreiden Judith und Franzi für heute das letzte Mal: „Siehst geil aus in deiner Hose – dich f*cke ich auch noch!“ Diesmal bleiben einige stehen, lesen interessiert, manche schauen irritiert. Eine Frau, die mit ihrem Partner an dem Spruch vorbeigeht, erklärt ihm kurz, um was es geht. Franzi ist zufrieden. Es sei der größte Spruch, den sie je gekreidet habe. Bald geht es für sie nach Berlin. Den Account will sie weiterführen. Denn mit der Aufklärungsarbeit ist sie noch lange nicht am Ende.