Kurz bevor ich nach Berlin zog, es war Sommer und ich machte gerade ein Praktikum in Wien, nahm mich mein damaliger Chef zur Seite und sagte: „Bleib so lange dort, wie du es aushältst. Und lern, so viel du kannst.“ Ich verortete diesen Ratschlag irgendwo zwischen väterlicher (also komplett übertriebener) Gebärde und typischem Bullshit-Kommentar. Jener Sorte, zu der Österreicher gerne greifen, sobald von Deutschland die Rede ist.
Vier Jahre später glaube ich: Er hatte recht. Österreich ist das Auenland, Deutschland ein Bootcamp. Während sich das Leben in meiner Heimat immer ein bisschen nach Proberunde anfühlt, in der man die Punkte noch nicht zählt, ist das Leben in Deutschland das „real game“, knallharte Welt, raue Straße. Auch wenn man mich in dieser total willkommen heißt – meinen Sonderstatus werde ich nie ganz loswerden.
Österreich ist das Auenland, Deutschland ein Bootcamp
In Österreich herrscht ein anderer Rhythmus: wie in einem alten Film mit langen Kameraeinstellungen, in denen nicht wirklich viel passiert, aber die trotzdem wichtig sind. In Deutschland, so kommt es mir vor, hat man alles Gemächliche wegrationalisiert. Gerade wurde noch gegessen, schon arbeiten alle wieder emsig. Kaum hat man zu diskutieren begonnen, ist eine Entscheidung schon getroffen. Ich komme oft nicht hinterher.
„Kaum hat man zu diskutieren begonnen, ist eine Entscheidung schon getroffen. Ich komme oft nicht hinterher“
Ein Nebeneffekt dieser durchaus beeindruckenden Effizienz: Charme kommt im deutschen Alltag, wenn überhaupt, nur in homöopathischen Mengen vor. Indirekt bestätigt sich das auch in der positiven Diskriminierung, der ich als Auslands-Österreicherin ständig begegne. Egal ob ich nun beim Zahnarzt sitze oder der DHL-Bote klingelt: Wenn ich neue Deutsche kennenlerne, bekomme ich mit einer hohen Wahrscheinlichkeit sehr bald attestiert, dass wir Österreicher „so charmant“ seien (manchmal lautet das Urteil auch „gemütlich“. Oder, auch schon gehört: „voll putzig irgendwie“). Ja, was sagt das über eine Nation, wenn sie über eine andere ständig sagt, sie wäre so charmant?
Selbst an Tagen, an denen ich so charmant bin wie eine Scheibe Brot, überkommt mich das Gefühl, dass für mich andere Spielregeln gelten. Dass ich quasi ein bisschen was guthabe: „Wie, Sie haben nicht reserviert?!“ Und dann, als würde mir vor aller Augen ein Joker zugesteckt, den Generationen von österreichischen Dichtern, Musikern und anderem charmanten Gesindel erarbeitet haben: „Ah, Sie sind aus Österreich? Ach, wissen Sie was, wir finden schon noch einen Tisch.“ Dieser Joker ist manchmal ganz praktisch. Aber bei all der lieb gemeinten Nachsicht frage ich mich oft: Nehmen die mich eigentlich für voll?
Meine fifty shades of „eh“
Vielleicht klinge ich in ihren Ohren auch einfach ein bisschen dumm. Die Deutschen sprechen nämlich nicht nur mit einer irren Wörter-pro-Minute-Ratio. Sie benutzen auch noch irre viele verschiedene Wörter. Über den aktiven Wortschatz meiner deutschen Kollegen zum Beispiel staune ich beim gemeinsamen Mittagessen auf dieselbe Weise wie über die 421 Wörter, die Inuits angeblich für Schnee haben. Und während ich ein mittelmäßiges Konzert mit „Ja, eh okay“ quittiere, werfen meine deutschen Freunde mit Beschreibungen wie „passabel“, „mittelprächtig“ oder „von dürftiger Originalität“ um sich.
„Ein Stirnrunzeln, und ich fühle mich in die Ecke getrieben, in Zugzwang, Aussagen mit Vokabeln auf den Punkt zu bringen“
Es wäre aber ein Trugschluss zu glauben, Österreicher hätten keine differenzierte Meinung. Im mündlichen Umgang drücken wir diese nur weniger durch Worte denn durch die Pausen dazwischen aus. Auch Wechsel in der Geschwindigkeit spielen eine wichtige Rolle. So wird aus einem neutralen „Ja, eh voll okay“ ein beschwichtigendes „Ja, ehhh, voll okeee“. Das Problem ist: Ich bin mir oft nicht sicher, ob meine fifty shades of „eh“ von meinen deutschen Freunden richtig dechiffriert werden. Ein Stirnrunzeln, und ich fühle mich in die Ecke getrieben, in Zugzwang, Aussagen mit Vokabeln auf den Punkt zu bringen.
Ein bisschen deutscher bin ich schon geworden. Mein mündlicher Wortschatz, so bestätigten mir österreichische Freunde, hat sich in den letzten Jahren merklich vergrößert. Doch wenn ich meine Interviews abtippe, höre ich immer noch ein Kleinkind, das Erwachsener spielt und hüpfend um Worte ringt.
„Sara“, beruhige ich mich dann immer, „nachher kannst du die Fragen doch eh noch ausformulieren.“ – „Ja, eh, stimmt eh“, antworte ich mir selbst. Das hilft.
In Österreich montiert man an jede Aussage einen Stoßdämpfer
Der österreichisch-deutsche Schauspieler Christoph Waltz hat einmal folgenden Vergleich gewagt: „Der Unterschied zwischen Österreichern und Deutschen ist wie der Unterschied zwischen einem Kriegsschiff und einem Walzer.“ Deutsche, so Waltz, würden immer die „Full-on-collision“ suchen. Österreicher dagegen wären – erstens – immer höflich und würden es – zweitens – nicht so meinen. Tatsächlich streben wir Österreicher nach Harmonie. Vielleicht, um ein friedliches Miteinander auch im engsten Gebirgstal zu ermöglichen, montieren wir an jede Aussage einen Stoßdämpfer, der verschiedene Auslegungen erlaubt. Gerne sind das Konjunktive („hätte“, „würde“, „wäre“) oder Weichmacher („vielleicht“, „eigentlich“, „recht“).
„Aus einem österreichischen ‘Meinst du, wir könnten vielleicht versuchen, die Durchgangstür ein bissl öfter geschlossen zu halten?‘ wird so ein ‘Es zieht!‘“
Die Deutschen dagegen, so kommt es mir vor, legen sich stets einen prägnanten Satz zurecht. Und dann streichen sie noch mal 30 Prozent der Wörter. Aus einem österreichischen „Meinst du, wir könnten vielleicht versuchen, die Durchgangstür ein bissl öfter geschlossen zu halten?“ wird so ein „Es zieht!“. Wenn sich doch einmal ein Streit anbahnt, dann macht man in Österreich in erster Instanz: nichts. Früher oder später wird der- oder diejenige es merken, sein Verhalten ändern – oder auch nicht. Egal wie die Geschichte ausgeht: Beim nächsten Treffen ist schon ein wenig Gras über die Sache gewachsen, und beide können so tun, als wäre nichts gewesen. Oder aber – und dies beschreibt schon die zweite und meist letzte Stufe – man führt Schmäh, zieht sich also gegenseitig humorvoll auf.
Ich schätze diese sanfte Art, mit der sich Streitereien umkurven lassen. Aber mit Samtpfoten rüttelt man niemanden wach. Erst von deutschen Freunden hörte ich Sätze wie „Was du schon wieder für ’ne Fresse ziehst. Ich glaub, dieses Studium ist nichts für dich“, als mir die chinesischen Schriftzeichen schon aus allen Löchern kamen. Oder: „Ey, lass jetzt mal gut sein mit dem Typen, das hat keinen Sinn“, als ich mal wieder Hals über Kopf nach Wien fahren wollte, um eine Woche später heulend zurückzukommen. Im Vergleich zu „Hm, meinst schon?“ taten diese klaren Worte zwar weh, aber auch gut.
Träume von der Rückkehr: den Thermostat endlich wieder auf Komfortzone zu stellen
Dennoch gibt es Momente, da tagträume ich davon, als Deutschlandveteranin nach Österreich zurückzukehren. Davon, den Thermostat endlich wieder auf Komfortzone zu stellen: Wenn sich wildfremde Menschen anbrüllen, weil einer bei rotem Ampelmännchen die Straße überquert. Wenn sich zwei Rentner im Kampf um die besten Plätze an der Wursttheke verbal den Schädel einschlagen. Oder wenn mir eine Mutti den Buggy schwungvoll ins Kreuz schiebt. Weil könnte ja sein, dass jemand vor ihr in der S-Bahn ist.
In solchen Momenten atme ich tief durch, schau die Deutschen ruhig an und denk mir kopfschüttelnd: „Heast bitte, scheißt’s euch doch ned immer so an.“
Auch wenn ihr Bericht nicht unbedingt nach Liebeserklärung klingt, Sara Geisler lebt sehr gerne in Deutschland. Ihren ursprünglichen Entry-Exit-Plan (Praktikum, Studium, Arbeitserfahrung, schnell zurück) hat sie nach gründlicher Abwägung gar auf Eis gelegt und hofft stattdessen auf weiterhin währende Willkommenskultur – auch nach dieser Veröffentlichung.
Titelfoto: Renke Brandt