Den späteren Kassenschlager entdeckte Fritz Stastny aus reiner Unachtsamkeit. In seinem Labor beim Chemieriesen BASF in Ludwigshafen suchte er nach einem Material, um Telefonkabel zu isolieren, ließ eine klare Lösung in einer Schuhcremedose zu einer harten Scheibe trocknen und verstaute sie im Wärmeschrank bei 80 Grad. Dort vergaß Stastny die Dose, als er am Abend des 1. Dezember 1949 das Labor verließ.
36 Stunden später war von der Scheibe nicht mehr viel übrig. Der harte Stoff hatte sich in ein aufgeplustertes Etwas verwandelt, in ein „Schaummonster“, wie Stastny in seinem Labortagebuch vermerkte: „Der Dosendeckel saß neckisch wie eine Baskenmütze auf einem 26 Zentimeter hohen Schaumstrang“, notierte der Chemiker. „Das Gebilde war starr und sah aus wie länglich verzogene Bienenwaben.“
Das Styropor war geboren. 1952 stellte BASF seine Entdeckung auf der Düsseldorfer Kunststoffmesse vor. Den Fachbesuchern präsentierte das Unternehmen etwa zehn Zentimeter lange Schiffchen aus dem neuen Material – „das leichteste Schiff der Welt“, wie BASF die Innovation anpries. Die Messebesucher waren beeindruckt. Doch so richtig anfangen konnte kaum jemand etwas mit dem neuen Material. Für die Isolierung von Telefonkabeln war es ungeeignet. Der erste Kunde, der Styropor bei den Ludwigshafenern orderte, machte daraus Weihnachtsbaumschmuck.
Heute gehört die Ludwigshafener Zufallsentdeckung zu den wichtigsten Kunststoffen der Welt. Mit ihm werden Häuser gedämmt und zerbrechliche Gegenstände verpackt, Rettungsringe sind aus Styropor, Lebensmittel werden in Styropor gebettet, Styroporschalen halten Essen warm. Und BASF entwickelte sich vom Farbenfabrikanten zu einem der größten Plastikproduzenten.
Bemerkenswert ist nicht nur, wie zufällig die Chemieindustrie auf die meisten Kunststoffe stieß, sondern auch, wie lang unklar blieb, welche Möglichkeiten in den neuen Materialien schlummerten. Die wichtigsten Kunststoffe waren bereits in den 30er-Jahren erfunden worden. Der große Plastikboom setzte jedoch erst nach dem Krieg ein.
Auf der Suche nach neuen Geschäftsfeldern …
Das hat verschiedene Gründe. Da die deutschen Chemieunternehmen während der Nazizeit eine wichtige Rolle in der Kriegswirtschaft gespielt hatten und im Verbund der I.G. Farben zum Profiteur des mörderischen Systems von Zwangsarbeit und Konzentrationslagern geworden waren, hatten ihnen die Siegermächte nach dem Weltkrieg erhebliche Beschränkungen auferlegt. Unter anderem verbot man ihnen die Kautschuksynthese, so dass Firmen wie Bayer und BASF, die aus der Entflechtung der I.G. Farben hervorgegangen waren, neue Geschäftsfelder brauchten.
Im Zuge des beginnenden Plastikbooms gründete BASF 1953 gemeinsam mit dem Mineralölkonzern Shell die Rheinischen Olefinwerke in Wesseling, zwischen Bonn und Köln gelegen. Es war das erste großtechnische Petrochemiewerk in Deutschland. Öl wurde billig und verfügbar und löste die Kohle ab. „Das hat den Plastikboom erst rentabel gemacht“, sagt der Wirtschaftshistoriker Werner Abelshauser von der Uni Bielefeld, der die Unternehmensgeschichte von BASF untersucht hat.
Rentables Öl alleine reichte aber wohl nicht – eine gewichtige Rolle spielte auch die Tatsache, dass die Konsumbedürfnisse im Deutschland der Nachkriegszeit stark zunahmen und die chemische Industrie gewiefte Marketingleute in ihren Reihen hatte: Kunststoffhersteller wie BASF produzierten zwar in der Regel nicht für den Endkunden, brüteten aber fleißig darüber, welche Alltagsgegenstände man in Plastikdinge verwandeln könnte – und verhalfen so dem Stoff, mit dem zunächst niemand etwas anfangen konnte, zum Einzug auf breiter Front in den Alltag. „Sie waren so erfolgreich, weil sie den Kunststoffverarbeitern nicht nur das Material, sondern gleich auch die fertigen Ideen geliefert haben“, sagt Jochen Streb, Professor für Wirtschaftsgeschichte an der Universität Mannheim.
Die Firma Kaffee Hag aus Bremen zum Beispiel machte BASF darauf aufmerksam, sie könne ihr Kakaopulver Kaba doch auch in Dosen aus Plastik mit einem Deckel aus festem Styropor verkaufen. Und suchte prompt einen Hersteller, der die neue Verpackung produzieren konnte. Auf diese Weise kamen immer mehr Kunststoffprodukte auf den Markt, an die zuvor niemand gedacht hatte. Ob das neue Material immer sinnvoller war als das, welches es ersetzte, und was das alles für die Umwelt bedeutete, daran verschwendete damals noch niemand einen Gedanken.
… schafft man sich die Geschäftfelder im Zweifel einfach selbst
Die Kunststoffverarbeiter blieben BASF treu, auch wenn Rohplastik andernorts billiger zu bekommen war. Sie vertrauten darauf, dass das Chemieunternehmen ihnen weitere Produktideen lieferte und die passenden Abnehmer vermittelte. Andere Firmen gingen ähnlich vor, um ihren Kunststoff in die Welt zu bringen: Der Hersteller Freudenberg aus Weinheim entdeckte beispielsweise, dass ein von ihm entwickeltes Lederimitat sich auch als Einlagenstoff für Krawatten, Blusen und Hüte verwenden ließ – und organisierte prompt Modenschauen, um die Bekleidungsindustrie von dem Kunststoff zu überzeugen. Das Unternehmen BASF versuchte seine Neuentdeckung Styropor in die Welt zu bringen, indem es eine Wanderausstellung organisierte. Zu sehen war alles, was sich aus Styropor machen ließ – auch fiktive Anwendungen. Styropor-Erfinder Stastny tingelte als Vortragsreisender durch die Lande, immerzu die Vorzüge seiner Entdeckung preisend.
Diese Marketingstrategie war in der Branche keineswegs neu. Als BASF sein Geld noch vor allem mit Farben verdiente, bot man den Mitarbeitern von Textilunternehmen in Lehrwerkstätten kostenlose Kurse im Färben und Bedrucken an. So wurde es für die Kleiderproduzenten lukrativ, auf synthetische Färbemittel umzustellen.
Auf diese Weise sorgte die Plastikindustrie selbst dafür, dass Produkte in den Markt kamen, die ursprünglich niemand haben wollte und die später zum Umweltproblem wurden. Verdienen konnte sie mit dieser Strategie jedenfalls lange gut. An den weltweiten Kunststoffexporten hatten die deutschen Hersteller in den Nachkriegsjahren einen überproportional großen Anteil. „Die Kunststoffbranche ist eine Vorzeigebranche für das Wirtschaftswunder“, sagt der Mannheimer Wirtschaftshistoriker Jochen Streb.
Heute werden Massenkunststoffe wie Polyethylen oft im Ausland produziert, wo der Weg zu den Rohstoffen kürzer ist und die Märkte stärker wachsen. Vor allem in Asien hat der Plastikhunger zugenommen, während die Produktionszahlen hierzulande eher stagnieren. Der Boom der deutschen Kunststoffproduktion ebbte bereits in den 70er-Jahren etwas ab. Auch dafür gibt es viele Gründe. 1973 drosselte die Organisation erdölexportierender Länder (OPEC) die Ölförderung – der Rohstoff, aus dem all die Plastikvarianten entstanden, wurde mit einem Mal knapper und teuer. Und die bisherige Marketingstrategie zog nicht mehr so recht: Inzwischen waren im Ausland Konkurrenten auf den Plan getreten, die ebenfalls begriffen hatten, dass sie ihren Kunststoffverarbeitern nicht nur das Material, sondern gleich ganze Vermarktungskonzepte liefern mussten.
Bernd Kramer schreibt als freier Autor unter anderem für die „Zeit“, „Neon“ und die „taz“. Als studierter Volkswirt und Soziologe beschäftigt er sich in seinen Texten gerne mit den großen Fragen der Gesellschaft.