fluter: Mit wem spreche ich?
Sofie: Du sprichst im Moment mit Sofie.
Bist du allein?
Nein, nie. Mehrere Menschen teilen sich meinen Körper.
Was tun die anderen im Moment?
Manche schlafen. Andere hören uns kritisch zu. Sie beargwöhnen, was uns gerade für Fragen gestellt werden.
Wie viele Persönlichkeiten hast du?
Wie viele es genau sind, kann ich nicht sagen. Teilweise sind es Kinder, teilweise Jugendliche oder Erwachsene. Es gibt Frauen, Männer, aber auch Personen, denen ich kein Geschlecht zuordnen kann.
Das klingt anstrengend und chaotisch.
Ist es auch. Wenn es sehr stressig wird und viele Personen gleichzeitig Aufmerksamkeit wollen, habe ich Schwierigkeiten, mein Innenleben zu koordinieren. Ich kann manchmal kaum noch wahrnehmen, was um mich herum passiert.
Fährst du Auto?
Ja.
Und was passiert, wenn auf einmal ein Kind die Kontrolle übernimmt und am Steuer sitzt?
Das wäre gefährlich. Es würde wahrscheinlich denken, dass es Bobbycar fährt. In der Praxis passiert mir das aber nicht. Wir kommunizieren miteinander und vereinbaren, dass immer nur eine Person am Steuer sitzt, die alt genug ist.
Hast du überhaupt noch einen Überblick, wer du selber eigentlich bist?
Ich sehe mich eher als System und nicht als Einzelperson. Ich bestehe aus Teams, die gemeinsame Aufgaben übernehmen. Zum Beispiel gibt es mehrere, die gut darin sind, meine Ausbildung auf die Reihe zu kriegen und zu lernen. Die gehen zur Schule und können sehr gut logisch denken. Andere Persönlichkeiten sind dafür zuständig, soziale Kontakte zu pflegen.
Wann hast du gemerkt, dass mit dir etwas nicht stimmt?
Lange Zeit war es für mich normal, dass in meinem Kopf jemand dazwischenquatscht. Ich dachte, das wäre bei allen so. Aber in der Schulzeit ging es mir auf einmal immer schlechter. Manchmal bin ich zum Beispiel während des Unterrichts einfach aufgestanden und rausgerannt, weil ich es nicht ertragen habe, mit dem Lehrer in einem Raum zu sein. Ich habe selber nicht mehr verstanden, was mit mir los ist.
Hast du dann eine Therapie gemacht?
Ja, ich bin durch mehrere Therapeutenhände gegangen. Irgendwann kam ich zu einer Psychologin, mit der ich zum ersten Mal über die Probleme in meiner Familie sprechen konnte. Ich erzählte ihr, dass mein Vater manchmal ausgerastet ist. Wir näherten uns dem Kern langsam. Dann kam eine Therapiestunde, in der ich auf einmal weg war.
Wie meinst du das – weg?
Ich hatte einen richtigen Filmriss. Als ich zu mir kam, sagte meine Therapeutin: „Weißt du, was eben passiert ist? Da saß gerade ein Kind vor mir. Ich habe mit einem kleinen Kind geredet!“ Ich hatte aber nichts mitbekommen. Danach wurde ich mit Tests in einem standardisierten Verfahren untersucht. Am Ende hatte mein Zustand einen Namen: dissoziative Identitätsstörung.
Was ist die Ursache für diese Störung?
Ich war seit meiner frühesten Kindheit massiver Gewalt ausgesetzt. Ich wurde von Menschen aus dem familiären Umfeld vergewaltigt und misshandelt.
Was hat das mit der Spaltung deiner Persönlichkeit zu tun?
Dissoziation ist ein Mechanismus der Psyche, der das Überleben sichern soll. Wenn eine Situation unerträglich für ein Kind wird, dann spalten sich Teile ab. Es entstehen Identitäten, die den schrecklichen Teil in sich tragen, und andere, die im Alltag funktionieren können. Meine Innenpersonen haben ganz eigene Erinnerungen und Biografien. Sie haben Sachen erlebt, von denen ich nichts wusste. Am Anfang war das für mich so, als würde ich Geschichten über jemand völlig Fremden hören. Meine erste Reaktion war: Das bin doch nicht ich!
Hast du nicht gezweifelt, ob das überhaupt wahr sein kann?
Natürlich habe ich gezweifelt! Ich war mir sicher, dass das nicht stimmen kann. Ich diskutierte viel mit meiner Therapeutin und glaubte, dass mir das alles eingeredet werden soll. Wobei ich sagen muss, dass sie immer eine sehr neutrale und objektive Haltung hatte. Letztendlich ist es aber so, dass ich schon noch einige Erinnerungen aus der Zeit vor den Therapien hatte, die sich mit den Ereignissen deckten. Manches ließ sich auch objektiv durch die unabhängigen Aussagen Dritter bestätigen.
Wie offen gehst du mit deiner Identitätsstörung um? Wissen andere, dass du viele Personen bist?
Wenn ich neue Leute kennenlerne, erzähle ich erst mal nichts. Das ist mir zu kompliziert und intim. Nur enge Freunde kennen meine Geschichte. Die halten mich auch nicht für verrückt und stehen zu mir. Meine Freunde wundern sich nicht, wenn mal statt einer 27-Jährigen ein Kind am Telefon mit ihnen spricht.
Kann man deine Störung heilen?
Ich habe davon gehört, dass man mit therapeutischer Hilfe angeblich wieder eine Person werden kann, aber das ist gar nicht mein Hauptziel. Ich hoffe einfach, dass ich irgendwann lerne, mit meiner Vergangenheit umzugehen. Die Angst und die schlimmen Erinnerungen sollen mein Leben nicht mehr bestimmen.
Stichwort DIS:
Im Jahr 1889 beobachtete der französische Psychiater Pierre Janet erstmals, dass einige seiner Patienten, die belastende Lebenserfahrungen hinter sich hatten, Bewusstseinsinhalte zu haben schienen, die vollkommen voneinander getrennt waren. Janet nannte diesen Zustand Dissoziation. Schätzungen zufolge haben weltweit 0,5 bis 1,5 Prozent der Allgemeinbevölkerung und etwa 5 Prozent der Menschen in Psychiatrien eine dissoziative Identitätsstörung (DIS). Die Diagnose ist allerdings nicht unumstritten. 1973 wurde das Sachbuch „Sybil“, das von einer Frau mit 16 Innenpersonen handelt, in den USA zu einem Bestseller. Daraufhin schnellten die Fallzahlen in die Höhe, und es entwickelte sich ein regelrechter Hype um multiple Persönlichkeiten. Es mehrten sich aber auch die kritischen Stimmen. Nicht nur der Fall der Frau aus dem Sachbuch, sondern auch viele andere wurden angezweifelt. In den USA verurteilten Gerichte Therapeuten zu Schadensersatzzahlungen, weil sie ihren Patienten nachweislich nie stattgefundenen Missbrauch eingeredet hatten. Manche taten DIS daraufhin als eine reine Modeerscheinung ab. Heute wird die Diskussion über das Krankheitsbild differenzierter geführt. Die Frage, ob es sich bei den traumatischen Erlebnissen um innere Bilder oder historische Wahrheiten handelt, ist für viele Therapeuten nicht mehr entscheidend. Wichtiger ist es, den Menschen dabei zu helfen, mit diesen quälenden Erinnerungen umzugehen.