Nein: Das bringt der Luft eh nichts
Der Vorschlag ist verlogen und wird der Luftreinhaltung in den Städten kaum etwas bringen, glaubt Theresa Hein
Die Idee eines kostenlosen öffentlichen Nahverkehrs erreichte mich in einer Münchner U-Bahn, nach Feierabend, in Form einer Push-Nachricht auf meinem Smartphone. Ich rechnete mir gerade aus, wie viel Geld ich mir im Jahr sparen würde, als ich von einem fremden Bauch an eine fremde Hüfte gepresst wurde. Gleichzeitig schmiegte ich selbst ungewollt alle möglichen Körperteile an meine Mitfahrer und schaltete routinemäßig, wie jeden Feierabend in der U-Bahn, mein Schambefinden aus.
Jede kleinste Verspätung eines Zuges sind in Großstädten jetzt schon eine mittelschwere Katastrophe
Ziel der Idee eines kostenlosen Nahverkehrs ist, dass möglichst viele Menschen von ihren privaten PKWs auf den öffentlichen Nahverkehr umsteigen. Das mag in Kleinstädten, wie Herrenberg in Baden-Württemberg (einer Stadt, die als Modellstadt auserkoren wurde), ganz gut funktionieren. Da muss der Nahverkehr aber auch nur etwa 33.000 Menschen transportieren und nicht über hundertmal so viele, wie zum Beispiel in Berlin. Jeder U-Bahn-Ausfall wegen einer Stellwerkstörung, jede Oberleitungsstörung und jede kleinste Verspätung eines Zuges sind in Großstädten jetzt schon eine mittelschwere Katastrophe. Wenn man den öffentlichen Nahverkehr so umstrukturieren möchte, wie die Bundesregierung sich das vorstellt, müsste er ausgebaut werden: mehr Fahrzeuge, dichtere Taktung der Züge, mehr Angestellte.
Die meisten Autofahrer fahren lieber Auto, weil sie keine Lust auf Gedrängel haben
Aber der Massenwechsel auf öffentliche Verkehrsmittel wird ohnehin ausbleiben. Das Argument, es würden genug Leute auf den öffentlichen Nahverkehr umsteigen, wenn der erst kostenlos wäre, hält der Realität nicht stand. Es ist ja nicht so, als würden Autofahrer ausschließlich lieber Auto fahren, weil sie sich kein Monatsticket leisten können.
Die meisten Autofahrer fahren lieber Auto, weil sie keine Lust auf Gedrängel haben, weil sie ihre Kinder entspannt mitnehmen können, einfach weil es bequemer ist. Oder weil sie ohnehin schon Wartungskosten und Steuern für ihr Auto bezahlen. In Städten, in denen die Stickoxidbelastung besonders hoch ist, wie in München, Stuttgart oder Köln, wird die Luft nicht schlagartig besser werden, weil Einzelne vom Auto auf die U-Bahn umsteigen. Die Bundesregierung gibt mit dem Vorschlag für kostenlose Öffis ihre Verantwortung aus der Hand und an die Bürger ab: Anstatt Fahrverbote durchzusetzen, hofft sie, das Problem der Luftverschmutzung in den Städten möge sich durch die Initiative des Bürgers lösen. Der ist aber nicht gerade bekannt dafür, dass er gerne seine Gewohnheiten – besonders die bequemen – ändert.
Außerdem, was heißt schon kostenlos? Die Kosten für den öffentlichen Nahverkehr werden nur umgelenkt. Noch gibt es keine Antwort darauf, wer die immensen Kosten für das Projekt tragen soll, wenn die Ticketpreise wegfallen. Im Zweifelsfall wird sich der Vorstoß in Steuern niederschlagen – und Steuern müssen alle zahlen. Auch die Bewohner von Städten, in denen es eben keinen kostenlosen öffentlichen Nahverkehr gibt, oder von Dörfern, die schlecht an das öffentliche Verkehrsnetz angebunden sind.
Der Luftreinhaltung in den Städten wird das kaum etwas bringen
Das Timing dieses Vorschlags ist für Umweltschützer ein Hohn. In 70 Städten in Deutschland werden die Stickoxidwerte überschritten, deswegen drohte die EU-Kommission in Brüssel im Januar mit einer Klage. Im Februar folgte im Zuge der Koalitionsverhandlungen die Idee des kostenlosen Nahverkehrs – wie das Kaninchen aus dem Hut. Der Luftreinhaltung in den Städten wird das kaum etwas bringen.
Das Geld sollte lieber in sinnvolle Umweltplaketten investiert werden, in Parkplätze für Carsharing-Modelle, in subventionierte Fahrgemeinschaften, in bessere Radwege. Oder in mehr Fahrzeuge und Angestellte für die Verkehrsbetriebe und eine stufenweise Verringerung der Ticketpreise. Man könnte sich an anderen europäischen Städten orientieren, zum Beispiel an Wien: Dort kostet eine Jahreskarte 365 Euro. Das ist fair für die Bürger, und trotzdem nehmen die Verkehrsbetriebe noch Geld über Fahrgäste ein.
Kostenloser Nahverkehr: nur eine weitere Verbeugung des Bundes vor der Automobilindustrie
Auf jeden Fall sollte die Bundesregierung eine langfristige Lösung im Blick haben und nicht das kurze populistische Zufriedenheitsmoment. Alles in allem ist die Idee eines kostenlosen Nahverkehrs nur eine weitere Verbeugung des Bundes vor der Automobilindustrie, die keine Restriktionen fürchten muss.
Theresa Hein kauft sich nur im Winter die teuren Monatskarten für den Nahverkehr. Im Sommer versucht sie, möglichst viel mit dem Fahrrad zu fahren, um Geld zu sparen. Meistens funktioniert das. Andererseits hat sie in diesem Jahr schon eine Monatskarte verloren und musste sie nachkaufen.
Collagen: Renke Brandt
Ja: Jeder hat ein Recht auf Mobilität
Auf jeden Fall, meint Ulrike Anna Bleier. Wo das Geld dafür herkommen soll? Na, von den Autofahrern
Die Bundesregierung überlegt, in Städten mit hoher Luftverschmutzung einen kostenlosen öffentlichen Personennahverkehr einzuführen, und Deutschland flippt aus. Ich auch: Bus- und Bahnfahren als Bürgerrecht! Mobilität für alle, ohne Wenn und Aber! Keine kaputten Fahrscheinautomaten mehr! Keine komplizierten Tickettabellen mehr, die dir das Gefühl vermitteln, egal welchen Fahrschein du wählst, du zahlst auf jeden Fall drauf! Partizipation und soziale Gerechtigkeit steigern, Feinstaubbelastung verringern. Je mehr Menschen Bus und Bahn nutzen, desto weniger Autos drängeln sich auf den Straßen, verpesten die Luft und machen Radfahrern und Fußgängern die Straßen und Bürgersteige streitig.
Ausbauen und billiger werden sind keine Widersprüche
Schön wär’s, doch so einfach ist es nicht. Denn die ÖPNV-Netze stoßen bereits jetzt an ihre Grenzen: „Ein kurzfristiger, sprunghafter Fahrgastanstieg würde die vorhandenen Systeme vollständig überlasten“, erklärt Jürgen Fenske vom Verband Deutscher Verkehrsunternehmen. „Wenn nun zehn oder zwanzig Prozent mehr Menschen den ÖPNV nutzen, werden viele diesem nach kurzer Zeit den Rücken zukehren und wieder auf das Auto umsteigen“, befürchtet Ulrich Soénius von der IHK Köln.
Ein Modellprojekt im brandenburgischen Templin bestätigte das – zunächst. Die Einführung des kostenlosen Nahverkehrs 1998 ließ die Fahrgastzahlen explodieren. Nach nur vier Jahren nutzten fast 15-mal so viele Menschen den öffentlichen Personennahverkehr. Die Busse waren ständig voll. Also ließ die Stadt den Takt erhöhen. Zwar konnte sich Templin den kostenlosen Bürgerservice irgendwann nicht mehr leisten, doch heute kostet eine Busfahrkarte dort nur 44 Euro – im Jahr! Das kostenlose Nahverkehrsmodell ist auf den ersten Blick gescheitert – der Nutzen des Experiments bleibt für die Templiner trotzdem enorm, die Fahrgastzahlen waren 2015 immer noch fünfmal höher als vorher.
Ein zweites Beispiel: Als europäischer Pionier im kostenlosen ÖPNV gilt Tallinn, mit einer Einwohnerzahl von rund 445.000 Einwohnern vergleichbar mit Duisburg. Wer in Estlands Hauptstadt wohnt, darf seit 2013 kostenlos Bus und Bahn fahren. Das Modell funktioniert: Zehn Prozent mehr Einwohner nutzen heute diese Verkehrsmittel. Und: 30.000 Menschen mehr leben in der Stadt, seit die Öffis kostenlos sind. Das beschert der Stadtkasse ein Plus von rund 30 Millionen Euro Steuern. Dieses Geld steckt Tallin in den öffentlichen Nahverkehr und deckt damit die Mehrkosten.
Ausbauen und billiger werden sind also keine Widersprüche. Im Gegenteil. Und es muss ja nicht gleich komplett kostenlos sein. Drittes Beispiel: In Wien kostet eine Jahreskarte 365 Euro im Jahr und kommt damit dem kostenlosen Fahren immerhin sehr nahe. Laut einer Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung werden 63 Prozent einer Fahrkarte ohnehin bereits im Normaltarif subventioniert. Noch stärker aber wird der städtische Autoverkehr aus Steuergeldern finanziert, und zwar mitnichten nur aus der Kfz-Steuer. Viele externe Kosten betreffen laut Verkehrsclub Deutschland teure Posten wie Feuerwehr, Polizei, Straßenbeleuchtung, Grünflächen: „Schon heute finanziert jeder Bürger indirekt den städtischen Autoverkehr mit durchschnittlich 150 Euro pro Jahr mit.“ Wenn davon auch nur die Hälfte für das kostenlose Bürgerticket und den dann notwendigen Kapazitätsausbau ausgegeben wird, könnte die milliardenteure Finanzierung des kostenlosen ÖPNV in Deutschland durchaus funktionieren. Doch wer soll das Minus bezahlen, das dann dem Autoverkehr fehlt?
Autofahrer holt man eh nur von der Straße, wenn man sie zur Kasse bittet
Antwort: Na, die Autofahrer. Die holt man eh nur von der Straße, wenn man sie zur Kasse bittet, glaubt auch der Ökonom Axel Ockenfels. In der „FAZ“ schlägt er vor, kostengerechte Preise für die Straßennutzung einzuführen, sodass auch die Autofahrer ihren Beitrag zur Luftverschmutzung und zur Staubildung beitrügen. Solche City-Maut-Modelle gibt es schon: in Mailand, London oder Stockholm, wo die Zahl der Autos während der Rushhour um 20 Prozent gesunken ist. Das Modell würde zudem die Straßen für Radfahrer attraktiver machen, was wiederum den Nahverkehr entlasten würde.
Die Frage nach dem kostenlosen Personennahverkehr entpuppt sich am Ende als Gretchenfrage: Soll unsere Gesellschaft gerechter, sollen unsere Städte lebenswerter werden? Oder wollen wir, weil wir uns etwas anderes angeblich nicht leisten können, immer mehr Bevölkerungsgruppen ihrem Schicksal überlassen: Die Armen sollen zu Hause bleiben? Die Radfahrer besser aufpassen? Und wer die dicke Luft in der Stadt nicht verträgt, soll halt aufs Land ziehen?
Ein Umdenken muss nicht in der Zukunft, sondern genau jetzt stattfinden. Dies ist der beste Zeitpunkt, um in neue Modelle zu investieren. Mobilität zum Nulltarif sollte ein Bürgerrecht sein wie Gesundheitsvorsorge und Bildung. Und genauso wie eine Gesellschaft von gesunden und klugen Bürgern profitiert, profitiert sie von Menschen, die kostenlos in den nächsten Bus einsteigen und zur Arbeit, ins Theater, an den Strand oder auch nur zum nächsten Tellerrand fahren können.
Ulrike Anna Bleier arbeitet als freie Autorin und Schriftstellerin. In der Stadt fährt sie Fahrrad oder Straßenbahn. Ihr Auto, das sie für längere Strecken nutzt, hat einen lustigen Namen. Sie glaubt: Eine Zukunft, in der es allen besser geht, ist möglich.
Foto: Stepanka Stepankova